24.4.08
GOTTHOLD EPHRAIM LESSING: DER ÜBER UNS
GOTTHOLD EPHRAIM LESSING (1729-1781)
DER ÜBER UNS
Hans Steffen stieg bei Dämmerung (und kaum
Konnt er vor Näschigkeit die Dämmerung erwarten)
In seines Edelmannes Garten
Und plünderte den besten Äpfelbaum.
Johann und Hanne konnten kaum
Vor Liebesglut die Dämmerung erwarten,
Und schlichen sich in eben diesen Garten,
Von ungefähr an eben diesen Äpfelbaum.
Hans Steffen, der im Winkel oben saß
Und fleißig brach und aß,
Ward mäuschenstill, vor Wartung böser Dinge,
Daß seine Näscherei ihm diesmal schlecht gelinge.
Doch bald vernahm er unten Dinge,
Worüber er der Furcht vergaß
Und immer sachte weiter aß.
Johann warf Hannen in das Gras.
"Oh pfui," rief Hanne; "welcher Spaß!
Nicht doch Johann! - Ei was?
Oh, schäme dich! - Ein andermal - oh laß -
Oh, schäme dich! - Hier ist es naß." - -
"Naß, oder nicht; was schadet das?
Es ist ja reines Gras." –
Wie dies Gespräche weiter lief,
Das weiß ich nicht, Wer brauchts zu wissen?
Sie stunden wieder auf und Hanne seufzte tief:
"So, schöner Herr! heißt das bloß küssen?
Das Männerherz! Kein einzger hat Gewissen!
Sie könnten es uns so versüßen!
Wie grausam aber müssen
Wir armen Mädchen öfters dafür büßen!
Wenn nun auch mir ein Unglück widerfährt -
Ein Kind - ich zittre - wer ernährt
Mir dann das Kind? Kannst du es mir ernähren?"
"Ich?" sprach Johann; "die Zeit mags lehren.
Doch wirds auch nicht von mir ernährt,
Der über uns wirds schon ernähren,
Dem über uns vertrau!"
Dem über uns! Dies hörte Steffen.
Was, dacht er, will das Pack mich äffen?
Der über ihnen? Ei, wie schlau!
"Nein!" schrie er: "laßt euch andre Hoffnung laben!
Der über euch ist nicht so toll!
Wenn ich ein Bankbein1 nähren soll:
So will ich es auch selbst gedrechselt haben!"
Wer hier erschrak und aus dem Garten rann,
Das waren Hanne und Johann.
Doch gaben bei dem Edelmann
Sie auch dem Äpfeldieb wohl an?
Ich glaube nicht, daß sies getan.
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