30.4.08

GEORG BÖTTICHER: AN LEIPZIG!


GEORG BÖTTICHER (1849-1918)


AN LEIPZIG!


Mei liewes Leibzg – m'r sinn doch noch de Alten
Trotz allen Wechsel in der Zeiten Lauf? –
Laß mich mit dir ä bißchen unterhalten
Un nimm mei Reden, bitte, gietig auf.
Wenn ich versuche, eenjes zu ererdern,
Bis nich gleich beese! Sieh, es is so scheen,
Nich wahr, un gann de Freindschaft ja nur ferdern,
Wemmer in jeder Hinsicht uns verstehn?

Wemmer den Blick dann aufs Deader lenken,
Da gibt's ooch manches, was m'r dadeln gann
Ich gammer sicher ä Direktor denken
Noch idealer fast wie Stägemann.
Doch ihn mit Haß verfolgen, mit beständgen,
Wie manche – nee, das liegt m'r gänzlich fern.
Ja, gennt'ch 's so ä Sternchen oder Bändchen
Fer seine Sammlung stiften – herzlich gern!

Das is gewiß – Du bist dir trei gebliewen:
Musik, der Handel un der Buchverlag –
Um dieses Gleebladd dreht sich all dei Liewen,
Un alles andre gommt ärscht hinten nach.
Du genntst vielleicht ä Linschen mehr dich gimmern
Um Malerei un Dichtgunst un Sgulbdur
Un ä was weniger in Deenen wimmern?
Na, bis nur stille! Ich – ich meente nur – – –

Egal Musik, sieh, wärd een leichte iewer,
Drum stimmt mich oft ooch dei Gewandhaus miß.
(Es is m'r iewerhaubt von draußen liewer,
Zumal, wenn de Musik ärscht drinne is.)
Dann dreibste mir den Gultus mit den Meistern
Ä was ze weit, mei Leibzg. Was willste denn?
M'r gann sehr wohl fer Wagnern sich begeistern
Un doch nich Nikisch'n neiste Weste genn!

Dei neues Rathaus stilvoll zu gestalten,
War darum, wie m'r heert, so riesig-schwer,
Weil's galt, den Bleißenborgdorm ze erhalten
Genau so wie er stand von Altersch her.
Nu macht sich's mit d'n Bau ja schon recht scheene,
Nur eens gann ich mir nich zusammenreim:
Der Dorm is wegk bis auf de untern Steene –
Was brauchen die den schließlich stehn ze bleim?!

Im Buchgewerbehause, eiherrjeses,
Mei gutes Leibzg, da hattste ooch gee Glick:
Die Gorkserei von Schneidern is ä beeses,
In Golorit ä sehre beeses Stick!
Laß lieber uns von »Zoologschen« reden,
Denn das is wahr, an den erfreut m'r sich.
Grad so . gefällt dei »Balmengarten« jeden –
Nur hingehn duht m'r bei dän Breisen nich.

Un's »Ginstlerhaus« – ich sitze grade drinne,
Da schickt sich's nich und deshalb sag ich bloß:
Es is ja eeniges ä bißchen dinne –
Im ganzen awer werkt's doch sehr famos! –
Un nu genug! 's wär manches noch ze sagen,
Was unsereener auf'n Herzen hat...
Ich ferchte nur, du hast mich längst im Magen,
Un nachgerade – krieg ich's selwer satt!

29.4.08

HUGO BALL: LIEBESLIED FÜR EUPHEMIA


HUGO BALL (1886-1927)


LIEBESLIED FÜR EUPHEMIA


O Phemie: uns ist der Mond ein großes gelbes Tulpenbeet
(Es wälzen keuchend sich vom Horizonte Hollands taube Strahlen).
Vermischt sich Apfelmusgehirn mit Loderherz: kommt Eros viel zu spät
Und wir befinden uns weitaus am wohlsten in der Vertikalen.

Kioske öffneten sich rasch und Illustrierte schrillen.
Wir treiben Wucher mit dem Kinofilmband!
Wir liebten kilometerweise! Nach des Regisseures Willen!
Und jedes Pfundstück war uns neuer Akte Unterpfand.

Und Euphemie, wenn sentiment nicht mehr aktuell ist...
Dann fliehen wir nach Monte, Phemie: ich habe drei Systeme!
Du hast nur eins: du bringst die Kavaliere heeme.

Dann erbst du wohl das Doppelte, weil du so sexuell bist;
Ein Auto blüht uns und ein Landhaus: Abbazzia.
O Phemie: halt die Fleppen blank! Denk an die nächste Razzia!

28.4.08

GOTTFRIED AUGUST BÜRGER: DIE BEIDEN LIEBENDEN


GOTTFRIED AUGUST BÜRGER (1748-1794)


DIE BEIDEN LIEBENDEN


Ein andrer werb um Ehr und Gold!
Ich werb um Liebe bei Selinden.
Mich kann allein ihr süßer Sold
An allgetreue Dienste binden.
Das Glück läßt manchen Ehrenmann
In seinem Dienst umsonst verderben.
Allein bei treuer Liebe kann
Der Hirt auch sichern Sold erwerben.
Ich bin kein großer reicher Herr,
Und sie ist keine hohe Dame.
Dagegen klingt viel reizender
Ein kurzer schäferlicher Name.
Dagegen herzen wir uns frei,
Sind sicher vor Verrätertücken,
Auch schielet keine Spötterei,
Wann wir uns Knie und Hände drücken.
Der Prunk der hochstaffierten Kunst,
Selbst die Natur im Feierkleide,
Berauben nie sie meiner Gunst,
Denn sie beschämt an Reizen beide.
Das tausendstimmige Konzert
Der Lerchen und der Nachtigallen
Ist mir kaum halb so lieb und wert,
Wann ihre Solotriller schallen.
Im Denken ist sie Pallas ganz,
Und Juno ganz am edlen Gange,
Terpsichore beim Freudentanz,
Euterpe neidet sie im Sange;
Ihr weicht Aglaja, wann sie lacht,
Melpomene bei sanfter Klage,
Die Wollust ist sie in der Nacht,
Die holde Sittsamkeit bei Tage.
Des Morgens, welch ein Malerbild!
Wallt sie hervor in leichtem Kleide,
Noch ungeschnürt, und halb verhüllt
Nur in ein Mäntelchen von Seide.
Entringelt auf die Schulter sinkt
Die Hälfte goldner Locken nieder.
Wie dann ihr rasches Auge blinkt,
So blinkt das Licht aus Quellen wieder.
Natur und Einfalt helfen ihr,
An ihrem kleinen Morgentischchen.
Des Busens und des Hauptes Zier
Sind Ros' und Myrt' in einem Büschchen.
Zu ihren Wangen wurde nie
Ein Pinsel in Karmin getauchet;
Und doch, wie Rosen, blühen sie,
Von Frühlingsodem aufgehauchet.
Wann sie an ihrem Tischchen sitzt,
So werd ich scherzend hingewinket:
»Komm, schmücke selbst dein Mädchen itzt,
Wie deiner Laun' am besten dünket!«
Und mich beflügelt ihr Gebot,
Sie unvermutet zu umfangen.
Dann schminkt mit hohem Morgenrot
Mein Kuß die jugendlichen Wangen.
Ihr Haar im Nacken reizet mich
Zu hundert kleinen Torenspielen.
Fast nimmermüde läßt es sich
In diesen seidnen Locken wühlen.
Sie äugelt nach dem Spiegel hin,
Belauschet meine Neckereien;
Sie schilt, daß ich ein Tändler bin,
Und freut sich doch der Tändeleien.
Drauf leg ich ihr die Schnürbrust an.
Vor Wonne beben mir die Hände.
Das Band zerreißt, so oft es kann,
Damit die Arbeit später ende.
Wie flink bin ich nicht stets bereit,
So liebe Dienste zu verrichten!
Doch flinker noch, zur Abendzeit,
Das Werk des Morgens zu zernichten.
Nun schlinget meine kühne Hand -
O Liebe, Liebe, welche Gnade! -
Ein sanftgeflammtes Rosenband
Ihr zierlich zwischen Knie und Wade.
Wie mir das Blut zu Herzen stürzt!
Nicht schöner wies sie Atalante,
Da sie ums Jawort, hochgeschürzt,
Mit ihren Freiern wetterannte.
Nun schwebt die Grazie vor mir,
Schlägt mit den Silberfüßchen Triller,
Und tanzet hin an das Klavier,
Und singt ein Lied, nach Weiß, von Miller.
Mit welcher Wollustfülle schwellt
Mein Herz der Zauber ihrer Kehle!
Hinweg, aus aller Gotteswelt,
Gen Himmel singt sie meine Seele!
Der Morgen eilt, man weiß nicht wie.
Zur Mahlzeit ruft die Küchenschelle.
Ihr gegenüber, Knie an Knie,
Und Fuß an Fuß, ist meine Stelle.
Hier treiben wir's, wie froh und frei!
Uns fesselt kein verwünschter Dritter.
Die beste Fürstenschmauserei
Ist gegen solch ein Schmäuschen bitter.
Selinde schenkt mir Nektar ein.
Erst aber muß sie selber nippen.
Hierauf kredenzet sie den Wein,
Mit ihren süßen Purpurlippen.
Der Pfirsich, dessen zarten Flaum
Ihr reiner Perlenzahn verwundet,
Wie lüstern macht er Zung und Gaum!
Wie süß mir dieser Pfirsich mundet!
Nach Tische läßt auf ihrer Brust
Mein hingesunknes Haupt sich wiegen.
Von Wein berauschet und von Lust,
Will schier die Sprache mir versiegen.
Ein volles Herz gibt wenig Klang;
Das leere klingt aus allen Tönen.
Sie fühlet dennoch seinen Drang;
Und ach! versteht sein stummes Sehnen.
Jetzt wird der Holden bang ums Herz.
Ein Mädchen ist ein banges Wesen.
Sie reichet mir, aus losem Scherz,
Verwirrten Zwirn, ihn aufzulösen.
Zwar findet sie mich ungeschickt,
Doch sucht sie mich nur hinzuleiern.
O List! Indem sie her sich bückt,
Muß sich ihr Busen selbst entschleiern.
Ein schlauer Blick wird hingesandt;
Allein der Dieb läßt sich betreten.
Ein Streich von ihrer weichen Hand
Rächt auf der Stell ihr Schamerröten.
Dann rückt sie weg und spricht nicht mehr;
Bedeckt ihr Auge; macht die Blinde;
Lauscht aber durch die Finger her:
Wie ich die Kränkung wohl empfinde?
Dann spiel ich einen Augenblick,
Doch nur verstellt, den Tiefbetrübten;
Und sie, o Wonne! springt zurück,
Versöhnt sich mit dem Vielgeliebten,
Umhalset ihn, weiß nicht genug
Mit süßen Namen ihn zu nennen,
Und Mund und Wange, die sie schlug,
Fühlt er von tausend Küssen brennen.
Wohl hundert Launen, kraus und hold,
Umflattern täglich meine Traute.
Bald singt und lacht, bald weint und schmollt,
Bald klimpert sie auf ihrer Laute,
Tanzt hin und wieder, blitzgeschwind,
Bringt bald ein Büchelchen, bald Karten,
Bald streut sie alles in den Wind,
Und eilt hinunter in den Garten.
Ich hinterher, ereile sie
In einer sichern stillen Grotte.
Freund Amor treibt, sie weiß nicht wie,
Sie tief ins Dunkel. Dank dem Gotte!
Sie bebt, von meinem Arm umstrickt.
Mein Kuß erstickt ihr letztes Lallen.
Sie sinkt. Ich halte sie entzückt,
Und - halt! - und lasse sie nicht fallen.

27.4.08

ARNO HOLZ: GROSZSTADTMORGEN


ARNO HOLZ (1871-1914)


GROSZSTADTMORGEN


Die letzten Sterne flimmerten noch matt,
ein Spatz versuchte früh schon seine Kehle,
da schritt ich müde durch die Friedrichstadt,
bespritzt von ihrem Schmutz bis in die Seele.
Kein Quentchen Ekel war in mir erwacht,
wenn mich die Dirnen schamlos angelacht,
kaum daß ich stumpf davon Notiz genommen,
wenn mir ein Trunkner in den Weg gekommen.
Und doch, ich spürte dumpf, mir war nicht recht.
Selbst die Zigarre schmeckte schlecht.

Halb zwei. Mechanisch sah ich nach der Uhr.
An was ich dachte weiß der Kuckuck nur.
Vielleicht an meinen Affenpinscher Fips,
an ein Bonmot, an einen neuen Schlips,
vielleicht an ein zerbolztes Ideal,
vielleicht auch nur - ans Kaffee National.

Da, plötzlich, wie? ich wußt es selber nicht,
fuhr mir durchs Hirn phantastisch ein Gesicht,
ein Traum, den ich vor Jahren einst geträumt,
ein Glück, das zu genießen ich versäumt.
Ich fühlte seinen Atem mich umstreifen,
ich konnt es förmlich mit den Händen greifen!

Ein verwehender Sommertag, ich war allein,
auf einem grünen Hügel hielt ich im Abendschein,
und still war mein Herz und fröhlich und ruhte.
Leise, unter mir, schnupperte meine Stute,
die Zügel locker lang und laß,
und rupfte büschelweise das Gras.
es ging ihr fast kniehoch und stand voller Blumen.
Dazwischen roch es nach Ackerkrumen,
und hinten, die Flügel noch gerade besonnt,
mahlten drei Mühlen am Horizont.
Drei alte Dinger, fuchsrot beschienen
und halb schon vergraben hinter einem Feld Lupinen.
Sonst nichts, so weit der Blick auch schweifte,
als mannshohes Korn, das rauschend reifte;
dazu drüber ein ganz, ganz blaßblauer Himmel
voll Grillengezirp und Lerchengewimmel.

Das war das Ganze. Doch ich sah die Farben
und hörte den Wind wehn und roch die Garben.
Ein Sonnenblitz, drei flüchtige Sekunden,
und, wies gekommen, wars auch schon verschwunden!

Die Friedrichstraße. Krumm an seiner Krücke
ein Bettler auf der Weidendammer Brücke:
"Kauft-Wachs-streich-hölzer!
Schwedische-Storm- und - Wachs-streich-hölzer..."
Mich fröstelte!

26.4.08

KURT TUCHOLSKI: MIKROKOSMOS


KURT TUCHOLSKI (1890-1935)


MIKROKOSMOS


Daß man nicht alles haben kann -!
Wie gerne möchte ich Ernestinen
als Schemel ihrer Lüste dienen!
Und warum macht mir Magdalene,
wenn ich sie frage, eine Szene?
Von jener Lotte ganz zu schweigen -
ich tät mich ihr als Halbgott zeigen.
Doch bin ich schließlich 1 Stück Mann...
Daß man nicht alle haben kann -!

Gewiß: das Spiel ist etwas alt.
Ich weiß, daß zwischen Spree und Elbe
das Dramolet ja stets dasselbe,
doch denk ich alle, alle Male:
entfern ich diesmal nur die Schale -
was wird sich deinen Blicken zeigen?
Was ist, wenn diese Lippen schweigen?
Nur diesmal greifts mich mit Gewalt...
(Gewiß: das Spiel ist etwas alt.)

Daß man nicht alles haben kann -!
Das läßt sich zeitlich auch nicht machen...
Ich weiß, jetzt wirst du wieder lachen!
Ich komm doch stets nach den Exzessen
zu dir und kann dich nicht vergessen.
So gib mir denn nach langem Wandern
Die Summe aller jener andern.
Sei du die Welt für einen Mann...
weil er nicht alle haben kann.

25.4.08

CONRAD FERDINAND MEYER: DER SCHÖNE TAG


CONRAD FERDINAND MEYER (1825-1898)


DER SCHÖNE TAG

In kühler Tiefe spiegelt sich
Des Juli-Himmels warmes Blau,
Libellen tanzen auf der Flut,
Die nicht der kleinste Hauch bewegt.

Zwei Knaben und ein ledig Boot -
Sie sprangen jauchzend in das Bad,
Der eine taucht gekühlt empor,
Der andre steigt nicht wieder auf.

Ein wilder Schrei: "Der Bruder sank!"
Von Booten wimmelt's schon. Man fischt.
Den einen rudern sie ans Land,
Der fahl wie ein Verbrecher sitzt.

Der andre Knabe sinkt und sinkt
Gemach hinab, ein Schlummernder,
Geschmiegt das sanfte Lockenhaupt
An einer Nymphe weiße Brust.

24.4.08

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING: DER ÜBER UNS


GOTTHOLD EPHRAIM LESSING (1729-1781)


DER ÜBER UNS


Hans Steffen stieg bei Dämmerung (und kaum
Konnt er vor Näschigkeit die Dämmerung erwarten)
In seines Edelmannes Garten
Und plünderte den besten Äpfelbaum.

Johann und Hanne konnten kaum
Vor Liebesglut die Dämmerung erwarten,
Und schlichen sich in eben diesen Garten,
Von ungefähr an eben diesen Äpfelbaum.

Hans Steffen, der im Winkel oben saß
Und fleißig brach und aß,
Ward mäuschenstill, vor Wartung böser Dinge,
Daß seine Näscherei ihm diesmal schlecht gelinge.
Doch bald vernahm er unten Dinge,
Worüber er der Furcht vergaß
Und immer sachte weiter aß.

Johann warf Hannen in das Gras.
"Oh pfui," rief Hanne; "welcher Spaß!
Nicht doch Johann! - Ei was?
Oh, schäme dich! - Ein andermal - oh laß -
Oh, schäme dich! - Hier ist es naß." - -
"Naß, oder nicht; was schadet das?
Es ist ja reines Gras." –

Wie dies Gespräche weiter lief,
Das weiß ich nicht, Wer brauchts zu wissen?
Sie stunden wieder auf und Hanne seufzte tief:
"So, schöner Herr! heißt das bloß küssen?
Das Männerherz! Kein einzger hat Gewissen!
Sie könnten es uns so versüßen!
Wie grausam aber müssen
Wir armen Mädchen öfters dafür büßen!

Wenn nun auch mir ein Unglück widerfährt -
Ein Kind - ich zittre - wer ernährt
Mir dann das Kind? Kannst du es mir ernähren?"
"Ich?" sprach Johann; "die Zeit mags lehren.
Doch wirds auch nicht von mir ernährt,
Der über uns wirds schon ernähren,
Dem über uns vertrau!"

Dem über uns! Dies hörte Steffen.
Was, dacht er, will das Pack mich äffen?
Der über ihnen? Ei, wie schlau!
"Nein!" schrie er: "laßt euch andre Hoffnung laben!
Der über euch ist nicht so toll!
Wenn ich ein Bankbein1 nähren soll:
So will ich es auch selbst gedrechselt haben!"

Wer hier erschrak und aus dem Garten rann,
Das waren Hanne und Johann.
Doch gaben bei dem Edelmann
Sie auch dem Äpfeldieb wohl an?
Ich glaube nicht, daß sies getan.

23.4.08

HEINRICH VON KLEIST: DAS LETZTE LIED


HEINRICH VON KLEIST (1777-1811)


DAS LETZTE LIED


Fern ab am Horizont, auf Felsenrissen,
Liegt der gewitterschwarze Krieg getürmt.
Die Blitze zucken schon, die ungewissen,
Der Wandrer sucht das Laubdach, das ihn schirmt.
Und wie ein Strom, geschwellt von Regengüssen,
Aus seines Ufers Bette heulend stürmt,
Kommt das Verderben, mit entbundnen Wogen,
Auf alles, was besteht, herangezogen.

Der alten Staaten graues Prachtgerüste
Sinkt donnernd ein, von ihm hinweggespült,
Wie, auf der Heide Grund, ein Wurmgeniste,
Von einem Knaben scharrend weggewühlt;
Und wo das Leben, um der Menschen Brüste,
in tausend Lichtern jauchzend hat gespielt,
Ist es so lautlos jetzt, wie in den Reichen,
Durch die die Wellen des Kozytus schleichen.

Und ein Geschlecht, von düsterm Haar umflogen,
Tritt aus der Nacht, das keinen Namen führt,
Das, wie ein Hirngespinst der Mythologen,
Hervor aus der Erschlagnen Knochen stiert;
Das ist geboren nicht und nicht erzogen
Vom alten, das im deutschen Land regiert:
Das läßt in Tönen, wie der Nord an Strömen,
Wenn er im Schilfrohr seufzet, sich vernehmen.

Und du, oh Lied, voll unnennbarer Wonnen,
Das das Gefühl so wunderbar erhebt,
Das, einer Himmelsurne wie entronnen,
Zu den entzückten Ohren niederschwebt,
Bei dessen Klang, empor ins Reich der Sonnen,
Von allen Banden frei die Seele strebt;
Dich trifft der Todespfeil; die Parzen winken,
Und stumm ins Grab mußt du daniedersinken.

Erschienen, festlich, in der Völker Reigen,
Wird dir kein Beifall mehr entgegen blühn,
Kein Herz dir klopfen, keine Brust dir steigen,
Dir keine Träne mehr zur Erde glühn,
Und nur wo einsam, unter Tannenzweigen,
Zu Leichensteinen stille Pfade fliehn,
Wird Wanderern, die bei den Toten leben,
Ein Schatten deiner Schön' entgegenschweben.

Und stärker rauscht der Sänger in die Saiten,
der Töne ganze Macht lockt er hervor,
Er singt die Lust, fürs Vaterland zu streiten,
Und machtlos schlägt sein Ruf an jedes Ohr, -
Und da sein Blick das Blutpanier der Zeiten
Stets weiter flattern sieht, von Tor zu Tor,
Schließt er sein Lied, er wünscht mit ihm zu enden,
Und legt die Leier weinend aus den Händen.

22.4.08

WILHELM RAABE: DIE REGENNACHT


WILHELM RAABE (1831-1910)



DIE REGENNACHT


Ein armer Mann lag er auf seinem Lager
Und horchte, wie der Regen niederrauschte;
Ein altes Weiblein, giftig, gelb und hager,
Krankheit genannt, hielt Wacht,
Und es war Nacht,
War lange, schaurig kalte Regennacht.

Dem Manne weh, der einsam und verlassen
In solcher Nacht sich quält mit seinem Leben,
Der horchen muß dem Regen in den Gassen
Und zählen muß den Glockenschlag
Bis zu dem Tag,
Dem langen, grauen, öden Wintertag!

Das Auge fängt sich in des Vorhangs Falten,
Nur matten Schein verhüllt die Lampe wirft,
Schatten und Nacht! Und in der Nacht Gestalten
Und Tongewirr! Der Regen niederrauscht,
Die Seele lauscht
Und ängstet sich, verliert sich in sich selber!

Ein fröstelnd Feuer! Bei dem Rauschen, Rauschen
Geseufz des Windes vor dem verhangnen Fenster.
Oh unerträglich qualvoll, schmerzhaft Lauschen,
Das an den Nerven zerrt und zuckt!
Der Tod, der guckt
Sich überbeugend ins Gesicht dem Opfer.

Und wie die Tropfen unaufhörlich fallen,
Und wie es klingt und klopft und gießt und plätschert,
Da hört er leise Geistertritte hallen,
Und tote Jahre, Tage längst entschwunden,
Vergeßne Stunden
Ziehen lebendig durch die bange Seele.

Denke daran, in Sonne lag die Welt,
Wacht hielt die Mutter über dich im Schatten,
Ein Kind warst du auf einem Blumenfeld,
Denke der Kindheit, armer kranker Mann,
Denke daran,
Wie sich die Blüten schaukelten im Weste!
Denke daran, du standst auf Bergesgipfeln,
Es hielt dein starker Arm die Braut umschlungen;
Tief unter dir der Tannen dunkle Wipfel
Und weit der Täler, Hügel grüner Kranz
Im sonngen Glanz -
Denke der duftgen, hoffnungsreichen Ferne!

Denke daran, die Lerche sang im Blauen,
Als in dein Haus du führtest die Geliebte,
Denk, wie im Segen prangten reich die Auen!
Denk, wie die Häupter neigeten die Ähren,
Die hoffnungsschweren,
Denk, wie die Sichel blitzte in der Sonne!

Weh, welche Nacht! Will nie der Regen enden?
Zu glühndem Feuer wird ein jeder Tropfen!
Was hilft's die bange Seele abzuwenden?
Ein Leichenduft kalt ins Gesicht ihm schlägt,
Vorüber trägt
Vor dem geschloßnen Aug man seine Särge!

Ein armer Mann lag er auf seinem Lager
Und horchte, wie der Regen niederrauschte;
Ein altes Weiblein, giftig, gelb und hager,
Krankheit genannt, hielt Wacht,
Und es war Nacht,
War lange, schaurig kalte Regennacht.

21.4.08

WILHELM BUSCH: DER ESEL


WILHELM BUSCH (1832-1908)


DER ESEL


Es stand vor eines Hauses Tor
Ein Esel mit gespitztem Ohr,
Der käute sich sein Bündel Heu
Gedankenvoll und still entzwei. -
Nun kommen da und bleiben stehn
Der naseweisen Buben zween,
Die auch sogleich, indem sie lachen,
Verhaßte Redensarten machen,
Womit man denn bezwecken wollte,
Daß sich der Esel ärgern sollte. -
Doch dieser hocherfahrne Greis
Beschrieb nur einen halben Kreis,
Verhielt sich stumm und zeigte itzt
Die Seite, wo der Wedel sitzt.

20.4.08

JOSEPH VON EICHENDORFF: TRENNUNG


JOSEPH VON EICHENDORFF (1788-1857)


TRENNUNG


Denkst du noch jenes Abends, still vor Sehnen,
Wo wir zum letztenmal im Park beisammen?
Kühl standen rings des Abendrotes Flammen,
Ich scherzte wild - Du lächeltest durch Tränen.
So spielt der Wahnsinn lieblich mit den Schmerzen
An jäher Schlüfte Rand, die nach ihm trachten;
Er mag der lauernden Gefahr nicht achten;
Er hat den Tod ja schon im öden Herzen.

Ob du die Mutter auch belogst, betrübtest,
Was andre Leute drüber deuten, sagen -
Sonst scheu - heut mocht'st Du Nichts nach Allem fragen,
Mir einzig zeigen nur, wie Du mich liebtest.
Und aus dem Hause heimlich so entwichen,
Gabst Du in's Feld mir schweigend das Geleite,
Vor uns das Tal, das hoffnungsreiche, weite,
Und hinter uns kam grau die Nacht geschlichen.

Du gehst nun fort, sprachst Du, ich bleib' alleine;
Ach! dürft' ich Alles lassen, still und heiter
Mit Dir so ziehn hinab und immer weiter -
Ich sah Dich an - es spielten bleiche Scheine
So wunderbar um Locken Dir und Glieder;
So ruhig, fremd warst Du mir erschienen,
Es war, als sagten die versteinten Mienen,
Was Du verschwiegst: Wir seh'n uns niemals wieder!

19.4.08

GERHART HAUPTMANN: ABENDSTIMMUNG


GERHART HAUPTMANN (1862-1946)


ABENDSTIMMUNG


Hin durch den Forst schießt eine weiße Schlange,
spitz ist ihr Haupt, ihr Schweif verweht im Winde;
darunter braust auf stählernem Gewinde
der Erdenpuls in nimmermüdem Gange.

Verschwunden ist sie tief im Forste lange,
stumm ragt die Kiefer, um die rote Rinde
spielt schon der Nachthauch, schweifen Nebel linde,
und Uhuschrei tönt ferneher und bange.

Ein Tümpel liegt in weltvergessnen Träumen,
vom Frühlingsregen angefüllt, am Raine;
es spiegeln drin sich einsam Ost und Westen.

Tiefblau der Ost steht über schwarzen Bäumen,
die Stirn geziert mit einem Demantsteine;
der Westen prahlt mit fahlen Sonnenresten.

18.4.08

WALTER BENJAMIN: SONETT 2


WALTER BENJAMIN (1892-1940)


SONETT 2


Hättst du der Welt dein Sterben prophezeit
Natur wär dir vorangeeilt im Tode
Kehrte mit unerbittlichem Gebote
Das Sein in ewige Vergessenheit

Am Himmel ständen sanfte Morgenrote
Zur Stunde da hinglitt dein Körperkleid
Die Wälder färbte alle schwarzes Leid
Nacht überzog das Meer auf leisem Boote

Aus Sternen bildet namenlose Trauer
Das Denkmal deines Blicks am Himmelbogen
Und Finsternis verwehrt mit dichter Mauer

Des neuen Frühlings Licht heraufgezogen
Die Jahrzeit sieht im stillen Stand der Sterne
Aus deines Todes spiegelnder Zisterne.

15.4.08

WOLF BIERMANN: MAG SEIN DASS ICH IRRE


WOLF BIERMANN (1936)


MAG SEIN DASS ICH IRRE


Mag sein, dass ich irre und dich nur verwirre.
Mag sein, dass ich hoffe und bin längst verlorn.
Ich leb ja den Traum der Commune noch immer,
dazu hat mich ja meine Mutter geborn.

Wir haben uns selber am schlimmsten von allen
verraten, verkauft und blutig genarrt.
Und doch sind nicht all meine Träume, die roten,
mit all unsern Toten verreckt und verscharrt.

Und ob es mir schwer wird, und ob es mir leicht ist:
Ich geh unsern Weg, geh mit Sehnsucht und Zorn.
Mag sein, dass ich einmal, wenn alles erreicht ist,
erreicht habe nichts als ein Anfang von vorn.

14.4.08

THEODOR FONTANE: NEUESTE VÄTERWEISHEIT


THEODOR FONTANE (1819 - 1898)


NEUESTE VÄTERWEISHEIT


Zieh nun also in die Welt,
Tue beharrlich, was dir gefällt,
Werde keiner Gefühle Beute,
Meide sorglich arme Leute,
Werde kein gelehrter Klauber,
Wissenschaft ist fauler Zauber,
Sei für Rothschild statt für Ranke,
Nimm den Main und laß die Panke,
Nimm den Butt und laß die Flunder,
Geld ist Glück und Kunst ist Plunder,
Vorwärts auf der schlechtsten Kragge,
Wenn nur unter großer Flagge.
Pred'ge Tugend, pred'ge Sitte,
Millionär ist dann das dritte,
Quäl dich nicht mit "wohlerzogen".
Vorwärts mit den Ellenbogen,
Und zeig jedem jeden Falles:
"Du bist nichts, und ich bin alles."

13.4.08

WALTER HASENCLEVER: DIE MÖRDER SITZEN IN DIE OPER


WALTER HASENCLEVER (1890-1940)


DIE MÖRDER SITZEN IN DIE OPER



   Zum Andenken an Karl Liebknecht

Der Zug entgleist. Zwanzig Kinder krepieren.
Die Fliegerbomben töten Mensch und Tier.
Darüber ist kein Wort zu verlieren.
Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.

Soldaten verachtet durch die Straßen ziehen.
Generäle prangen im Ordensstern.
Deserteure, die vor dem Angriff fliehen,
Erschießt man im Namen des obersten Herrn.

Auf, Dirigent, von deinem Orchesterstuhle!
Du hast Menschen getötet. Wie war dir zu Mut?
Waren es viel? Die Mörder machen Schule.
Was dachtest du beim ersten spritzenden Blut?

Der Mensch ist billig, und das Brot wird teuer.
Die Offiziere schreiten auf und ab.
Zwei große Städte sind verkohlt im Feuer.
Ich werde langsam wach im Massengrab.

Ein gelber Leutnant brüllt an meiner Seite:
„Sei still, du Schwein!“ Ich gehe stramm vorbei:
Im Schein der ungeheuren Todesweite
Vor Kälte grau in alter Leichen Brei.

Das Feld der Ehre hat mich ausgespieen;
Ich trete in die Königsloge ein.
Schreiende Schwärme schwarzer Vögel ziehen
Durch goldene Tore ins Foyer hinein.

Sie halten blutige Därme in den Krallen,
Entrissen einem armen Grenadier.
Zweitausend sind in dieser Nacht gefallen!
Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.

Verlauste Krüppel sehen aus den Fenstern.
Der Mob schreit: „Sieg!“ Die Betten sind verwaist.
Stabsärzte halten Musterung bei Gespenstern;
Der dicke König ist zur Front gereist.

„Hier, Majestät, fand statt das große Ringen!“
Es naht der Feldmarschall mit Eichenlaub.
Die Tafel klirrt. Champagnergläser klingen.
Ein silbernes Tablett ist Kirchenraub.

Noch strafen Kriegsgerichte das Verbrechen
Und hängen den Gerechten in der Welt.
Geh hin, mein Freund, du kannst dich an mir rächen!
Ich bin der Feind. Wer mich verrät, kriegt Geld.

Der Unteroffizier mir Herrscherfratze
Steigt aus geschundenem Fleisch ins Morgenrot.
Noch immer ruft Karl Liebknecht auf dem Platze:
„Nieder der Krieg!“ Sie hungern ihn zu Tod.

Wir alle hungern hinter Zuchthaussteinen,
Indes die Opfer tönt im Kriegsgewinn.
Mißhandelte Gefangene stehn und weinen
Am Gittertor der ewigen Knechtschaft hin.

Die Länder sind verteilt. Die Knochen bleichen.
Der Geist spinnt Hanf und leistet Zwangsarbeit.
Ein Denkmal steht im Meilenfeld der Leichen
Und macht Reklame für die Ewigkeit.

Man rührt die Trommel. Sie zerspringt im Klange.
Brot wird Ersatz und Blut wird Bier.
MeinVaterland, mir ist nicht bange!
Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.

12.4.08

GOTTFRIED BENN: WAS SCHLIMM IST


GOTTFRIED BENN (1886 - 1956)


WAS SCHLIMM IST


Wenn man kein Englisch kann,
von einem guten englischen Kriminalroman zu hören,
der nicht ins Deutsche übersetzt ist.

Bei Hitze ein Bier sehn,
das man nicht bezahlen kann.

Einen neuen Gedanken haben,
den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann,
wie es die Professoren tun.

Nachts auf Reisen Wellen schlagen hören
und sich sagen, daß sie das immer tun.

Sehr schlimm: eingeladen sein,
wenn zu Hause die Räume stiller,
der Caf‚ besser
und keine Unterhaltung nötig ist.

Am schlimmsten:
nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für Spaten leicht.

11.4.08

WOLFGANG BORCHERT: REGEN


WOLFGANG BORCHERT (1921 - 1947)


REGEN


Der Regen geht als eine alte Frau
mit stiller Trauer durch das Land.
Ihr Haar ist feucht, ihr Mantel grau,
und manchmal hebt sie ihre Hand

und klopft verzagt an Fensterscheiben,
wo die Gardinen heimlich flüstern.
Das Mädchen muß im Hause bleiben
und ist doch grade heut so lebenslüstern!

Da packt der Wind die Alte bei den Haaren,
und ihre Tränen werden wilde Kleckse.
Verwegen läßt sie ihre Röcke fahren
und tanzt gespensterhaft wie eine Hexe!

10.4.08

ULLA HAHN: VORBEI


ULLA HAHN (1946)


VORBEI


Die Zeit der Großen Gesten ist vorbei
von Öffnen Schließen sind die Arme müde
Willkomm und Abschied es ist einerlei
die Zeit der Großen Gesten ist vorbei
Die Zeit der süßen Weine ist vorbei
das Paradies verkorkt. Wer aus mir trinkt
dem rinnt das Blut zu Blei
die Zeit der süßen Weine ist vorbei
Die Zeit der hohen Sockel ist vorbei
das Marmorbild verkalkt. Über die Adern
der Stirn wächst Gras wird Heu
die Zeit der hohen Sockel ist vorbei.

9.4.08

ROBERT GERNHARDT: NACHDEM ER DURCH METZINGEN GEGANGEN WAR


ROBERT GERNHARDT (1937-2006)


NACHDEM ER DURCH METZINGEN GEGANGEN WAR


Dich will ich loben, Häßliches,
Du hast so was verläßliches.

Das Schöne schwindet, scheidet, flieht,
fast tut es weh, wenn man es sieht.

Wer Schönes anschaut spürt die Zeit,
und Zeit sagt stets: Gleich ist's so weit.

Die Schönheit gibt uns Grund zur Trauer,
die Häßlichkeit erfreut durch Dauer.

8.4.08

GÜNTER KUNERT: MONDNACHT


GÜNTER KUNERT (1929)


MONDNACHT


Lebloser Klotz
Mond eisiger Nächte
der an bittere Märchen erinnert
an fremdes Gelebtwordensein
fern
wo Menschen heulten
anstelle der Wölfe
über blassem Schnee
bis zum verstummen darunter

Geborstenes Geröll
auf dem unsere Schatten
gelandet sind
und sich taumelnd bewegen
viel zu leicht
für die Last unserer Herkunft

auch dort sind wir hingelangt
wie immer dorthin
wo leben unmöglich ist;

In Gleichnisse ohne Erbarmen.

7.4.08

BETTINE VON ARNIM: SEELIED


BETTINE VON ARNIM (1785-1859)


SEELIED

Es schien der Mond gar helle,
Die Sterne blinkten klar,
Es schliefen tief die Wellen,
Das Meer ganz stille war.

Ein Schifflein lag vor Anker,
Ein Schiffer trat herfür:
Ach wenn doch all mein Leiden
Hier tief versunken wär.

Mein Schifflein liegt vor Anker,
Hat keine Ladung drin,
Ich lad ihm auf mein Leiden
Und laß es fahren hin.

Und als er sich entrissen
Die Schmerzen mit Gewalt,
Da war sein Herz zerrissen,
Sein Leben war erkalt'.

Die Leiden all schon schwimmen
Auf hohem Meere frei,
Da heben sie an zu singen
Eine finstre Melodei.

Wir haben festgesessen
In eines Mannes Brust,
Wo tapfer wir gestritten
Mit seines Lebens Lust.

Nun müssen wir hier irren
Im Schifflein hin und her:
Ein Sturm wird uns verschlingen,
Ein Ungeheuer im Meer.

Da mußten die Wellen erwachen
Bei diesem trüben Sang;
Verschlangen still den Nachen
Mit allem Leiden bang.

6.4.08

HERMANN HESSE: GLÜCK


HERMANN HESSE (1877-1962)


GLÜCK


Solang du nach dem Glücke jagst,
Bist du nicht reif zum Glücklichsein,
Und wäre alles Liebste dein.

Solang du um Verlornes klagst
Und Ziele hast und rastlos bist,
Weißt Du noch nicht, was Friede ist.

Erst wenn du jedem Wunsch entsagst,
Nicht Ziel mehr noch Begehren kennst,
Das Glück nicht mehr mit Namen nennst,

Dann reicht dir des Geschehens Flut
Nicht mehr ans Herz, und deine Seele ruht.

5.4.08

HANS MAGNUS ENZENSBERGER: ins lesebuch für die oberstufe


HANS MAGNUS ENZENSBERGER (1929)


ins lesebuch für die oberstufe

lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne:
sie sind genauer. roll die seekarten auf,
eh es zu spät ist. sei wachsam, sing nicht.
der tag kommt, wo sie wieder listen ans tor
schlagen und malen den neinsagern auf die brust
zinken. lern unerkannt gehn, lern mehr als ich:
das viertel wechseln, den pass, das gesicht.
versteh dich auf den kleinen verrat,
die tägliche schmutzige rettung. nützlich
sind die enzykliken zum feueranzünden,
die manifeste: butter einzuwickeln und salz
für die wehrlosen. wut und geduld sind nötig,
in die lungen der macht zu blasen
den feinen tödlichen staub, gemahlen
von denen, die viel gelernt haben,
die genau sind, von dir.

4.4.08

WALTER HASENCLEVER: DIE MÖRDER SITZEN IN DIE OPER


WALTER HASENCLEVER (1890-1940)


DIE MÖRDER SITZEN IN DIE OPER



   Zum Andenken an Karl Liebknecht

Der Zug entgleist. Zwanzig Kinder krepieren.
Die Fliegerbomben töten Mensch und Tier.
Darüber ist kein Wort zu verlieren.
Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.

Soldaten verachtet durch die Straßen ziehen.
Generäle prangen im Ordensstern.
Deserteure, die vor dem Angriff fliehen,
Erschießt man im Namen des obersten Herrn.

Auf, Dirigent, von deinem Orchesterstuhle!
Du hast Menschen getötet. Wie war dir zu Mut?
Waren es viel? Die Mörder machen Schule.
Was dachtest du beim ersten spritzenden Blut?

Der Mensch ist billig, und das Brot wird teuer.
Die Offiziere schreiten auf und ab.
Zwei große Städte sind verkohlt im Feuer.
Ich werde langsam wach im Massengrab.

Ein gelber Leutnant brüllt an meiner Seite:
„Sei still, du Schwein!“ Ich gehe stramm vorbei:
Im Schein der ungeheuren Todesweite
Vor Kälte grau in alter Leichen Brei.

Das Feld der Ehre hat mich ausgespieen;
Ich trete in die Königsloge ein.
Schreiende Schwärme schwarzer Vögel ziehen
Durch goldene Tore ins Foyer hinein.

Sie halten blutige Därme in den Krallen,
Entrissen einem armen Grenadier.
Zweitausend sind in dieser Nacht gefallen!
Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.

Verlauste Krüppel sehen aus den Fenstern.
Der Mob schreit: „Sieg!“ Die Betten sind verwaist.
Stabsärzte halten Musterung bei Gespenstern;
Der dicke König ist zur Front gereist.

„Hier, Majestät, fand statt das große Ringen!“
Es naht der Feldmarschall mit Eichenlaub.
Die Tafel klirrt. Champagnergläser klingen.
Ein silbernes Tablett ist Kirchenraub.

Noch strafen Kriegsgerichte das Verbrechen
Und hängen den Gerechten in der Welt.
Geh hin, mein Freund, du kannst dich an mir rächen!
Ich bin der Feind. Wer mich verrät, kriegt Geld.

Der Unteroffizier mir Herrscherfratze
Steigt aus geschundenem Fleisch ins Morgenrot.
Noch immer ruft Karl Liebknecht auf dem Platze:
„Nieder der Krieg!“ Sie hungern ihn zu Tod.

Wir alle hungern hinter Zuchthaussteinen,
Indes die Opfer tönt im Kriegsgewinn.
Mißhandelte Gefangene stehn und weinen
Am Gittertor der ewigen Knechtschaft hin.

Die Länder sind verteilt. Die Knochen bleichen.
Der Geist spinnt Hanf und leistet Zwangsarbeit.
Ein Denkmal steht im Meilenfeld der Leichen
Und macht Reklame für die Ewigkeit.

Man rührt die Trommel. Sie zerspringt im Klange.
Brot wird Ersatz und Blut wird Bier.
MeinVaterland, mir ist nicht bange!
Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.

2.4.08

REINER KUNZE: DIE LIEBE


REINER KUNZE (1933)


DIE LIEBE


Die liebe
ist eine wilde rose in uns
Sie schlägt ihre wurzeln
in den augen,
wenn sie dem blick des geliebten begegnen
Sie schlägt ihre wurzeln
in den wangen,
wenn sie den hauch den geliebten spüren
Sie schlägt ihre wurzeln
in der haut des armes,
wenn ihn die hand des geliebten berührt
Sie schlägt ihre wurzeln,
wächst wuchert
und eines abends
oder eines morgens
fühlen wir nur:
sie verlangt raum in uns
Die liebe
ist eine wilde rose in uns,
unerforschbar vom verstand
und ihm nicht untertan
Aber der verstand
ist ein messer in uns
Der verstand
ist ein messer in uns,
zu schneiden der rose
durch hundert zweige
einen himmel

1.4.08

STEFAN GEORGE: BLUMEN


STEFAN GEORGE


BLUMEN


In märzentagen streuten wir die samen
Wann unser herz noch einmal heftig litt
An wehen die vom toten jahre kamen
Am letzten kampf den eis und sonne stritt.
An schlanken Stäbchen wollten wir sie ziehen
Wir suchten ihnen reinen wasserquell ·
Wir wussten dass sie unterm licht gediehen
Und unter blicken liebevoll und hell.
Mit frohem fleisse wurden sie begossen ·
Wir schauten zu den wolken forschend bang
Zusammen auf und harrten unverdrossen
Ob sich ein blatt entrollt ein trieb entsprang.
Wir haben in dem garten sie gepflückt
Und an den nachbarlichen weingeländen ·
Wir wandelten vom glanz der nacht entzückt
Und trugen sie in unsren kinderhänden.