26.5.20

INGEBORG BACHMANN: ES KÖNNTE VIEL BEDEUTEN



INGEBORG BACHMANN



[ES KÖNNTE VIEL BEDEUTEN]


Es könnte viel bedeuten: wir vergehen,
wir kommen ungefragt und müssen weichen.
Doch daß wir sprechen und uns nicht verstehen
und keinen Augenblick des andern Hand erreichen,

zerschlägt so viel: wir werden nicht bestehen.
Schon den Versuch bedrohen fremde Zeichen,
und das Verlangen, tief uns anzusehen,
durchtrennt ein Kreuz, uns einsam auszustreichen.

27.2.20

THOMAS BERNHARD: MEIN WELTENSTÜCK



THOMAS BERNHARD


MEIN WELTENSTÜCK

Vieltausendmal derselbe Blick
Durchs Fenster in mein Weltenstück
Ein Apfelbaum im blassen Grün
Und drüber tausendfaches Blühn,
So an den Himmel angelehnt,
Ein Wolkenband, weit ausgedehnt …
Der Kinder Nachmittagsgeschrei,
Als ob die Welt nur Kindheit sei;
Ein Wagen fährt, ein Alter steht
Und wartet bis sein Tag vergeht,
Leicht aus dem Schornstein auf dem Dach
Schwebt unser Rauch den Wolken nach …
Ein Vogel singt, und zwei und drei,
Der Schmetterling fliegt rasch vorbei,
Die Hühner fressen, Hähne krähn,
Ja lauter fremde Menschen gehn
Im Sonnenschein, jahrein, jahraus
Vorbei an unserem alten Haus.
Die Wäsche flattert auf dem Strick
Und drüber träumt ein Mensch vom Glück,
Im Keller weint ein armer Mann,
Weil er kein Lied mehr singen kann …
So ist es ungefähr bei Tag,
Und jeder neue Glockenschlag
Bringt tausendmal denselben Blick,
Durchs Fenster in mein Weltenstück …

27.1.20

HERMANN HESSE: UND MORGEN BIN ICH TOT



HERMANN HESSE


UND MORGEN BIN ICH TOT

Das ist ein Denken wunderbar,
Daß dann mein Aug’, so licht es war,
Erlischt, und daß mein Mund vergißt
Die tausend Küsse, die er geküßt.

Dann wird die Welt, die mich gekannt,
Mit ihrer neugierfrechen Hand
Die Hülle von meinem Leben reißen,
Wird einer dem andern klar beweisen,
Daß ich ein schlimmer Geselle war,
Ein Dichter, ein Lügner, ein eitler Narr.
Und übermorgen, wenn ich vergessen,
Wird ein andrer mit gleichem Maß gemessen.

Derweil in einer andern Welt
Ein goldner Stern vom Himmel fällt,
Und geht ein Klagen und Weinen
Um ihn, um den Einen,
Den goldenen Stern, der so früh verblich.
Und der Stern war ich.

Auch mein Mädel wird weinen.
Dann kommen die Andern singend in’s Haus
Und reden’s ihr aus.
Sie sitzen zusammen beim Glase Wein
Und lachen mein.
Und ihre Lippen sind warm und rot.

Morgen bin ich tot.