30.1.15

YVAN GOLL: DER SALZSEE




YVAN GOLL


DER SALZSEE

Der Mond leckt wie ein Wintertier das Salz deiner Hände,
Doch schäumt dein Haar violett wie ein Fliederbusch,
In dem das erfahrene Käuzchen ruft.

Da steht für uns erbaut die gesuchte Traumstadt,
In der die Straßen alle schwarz und weiß sind.
Du gehst im Glitzerschnee der Verheißung,
Mir sind gelegt die Schienen der dunklen Vernunft.

Die Häuser sind mit Kreide gegen den Himmel gezeichnet
Und ihre Türen bleigegossen;
Nur oben unter Giebeln wachsen gelbe Kerzen
Wie Nägel zu zahllosen Särgen.

Doch bald gelangen wir hinaus zum Salzsee.
Da lauern uns die langgeschnäbelten Eisvögel auf,
Die ich die ganze Nacht mit nackten Händen bekämpfe,
Bevor uns ihre warmen Daunen zum Lager dienen.

29.1.15

REINER KUNZE: MEDITIEREN





REINER KUNZE


MEDITIEREN

Was das sei, tochter?

Gegen morgen
noch am schreibtisch sitzen, am hosenbein
einen nachtfalter der
schläft

und keiner weiß vom anderen

20.1.15

WOLF BIERMANN: BILDNIS EINES ALTEN DICHTERS




WOLF BIERMANN


BILDNIS EINES ALTEN DICHTERS

An deiner Seite zur Seit, Allerliebste, leis
Sollst du mich, wenn ich schnarche, drehn
Nervt dich mein saurer Altmännerschweiß
Schenk mir die Lüge: Du riechst so schön

Hat mich die Furcht, verkläre es als Lebensklugheit
Und werd ich grob, dann sag du: Typisch Mann
Und meinen Geiz-lob du ihn mir als Sparsamkeit
Und wenn mein Will will und nicht mehr kann

Dann lasse du es gelten als Vermenschlichung
Und Ungeduld (die meine!) sei dir Leidenschaft
Und wenn ich schwanke, nenne du mich jung
Und nimm mein Zittern als Zeichen von Kraft

Doch wenn mein Lied dein Herze nicht mehr bricht
Lach mich kalt an. Und verlasse mich.

17.1.15

CLAIRE GOLL: UNSCHLAFLIED




CLAIRE GOLL


UNSCHLAFLIED

Ich liege mit deinen Träumen
Märchen mit Wildkatzenaugen
jede Nacht
türkisblau Staunen
Steinte silberne Panther fressen mein Herz
Vögel wachsen
Rosen zwitschern
Sternschaum an goldenen Kugeln tropft
Ich liege mit deinen Träumen
jede Nacht
sterb ich nach dir

12.1.15

JOHANNES R. BECHER: ÜBER DAS SONETT




JOHANNES R. BECHER (1891-1958)


ÜBER DAS SONETT

Ich hielt gar lange das Sonettgeflecht
für eine Form, veraltet und verschlissen,
die alten Formen habe ich zerrissen
und dichtete mir neue, schlecht und recht.

Die neuen Formen, waren sie denn echt?
Und prägten sie der neuen Zeit Gewissen?
Die Form zu ändern all zu sehr beflissen,
ward ich dem neuen Wesen nicht gerecht.

Wenn ihr die alten Formen so zerbrecht
und wenn ihr meint, ein neues Formgepräge
nur täte not, die alte Form sei träge

und durch Gebrauch und Missbrauch abgeschwächt:
Bedenkt, die neuen Formen, die beginnen,
entstehen, uns kaum sichtbar und von innen.