22.9.11

JAKOB VAN HODDIS: HE!


JAKOB VAN HODDIS


HE!


Abend war's: Die Gänse schnattern
Heimwärts in die Abendsonne.
- Denkt der Stadtherr poesievoll.

Ha! Der Vater mit dem Sohne
- Auf dem Zündloch der Kanone -
Geht aufs Tempelhofer Feld.

Kürassiere schreiten richtig,
Vater nimmt die Sache wichtig:
„Sohn, o Sohn, o werde tüchtig!“

Ha! Er gibt den Rat ihm nun,
Die unerhörte Tat zu tun,
Endlich ein Genie zu sein.

Ha! Aus seiner stillen Klause
Wo er korrigierend thront,
Steigt ein blasser Oberlehrer
Und beschaut den roten Mond.

„Einst als gelockter Jüngling in der Bar
Sah ich begeistert mancher Dame Schwips.
O, überirdisch himmlisch stand ihr Haar
Zur Rötlichkeit des Sherry Brandy Flips.“

6.9.11

AXEL KUTSCH: ANLEITUNG


AXEL KUTSCH (1945)


ANLEITUNG

Wenn Sie ein Gedicht lesen,
dann lesen Sie es am besten so,
sehen Sie, so.
Selbstverständlich können Sie
es auch anders lesen.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten.
Beispielsweise so.
Oder so.
Ich habe einen Mann gekannt,
der Gedichte so las.
Aber er war eine Ausnahme.
Die meisten lesen Gedichte so.
Ja, genau so.
Haben Sie schon einmal
ein Gedicht so gelesen?
Nein, nicht so, sondern so.
Ich sage Ihnen, es bringt nicht viel,
wenn man ein Gedicht so liest.
Man liest es besser so.
Verbindliche Regeln gibt es nicht.
Aber glauben Sie mir:
Sie haben mehr von einem Gedicht,
wenn Sie es so lesen –
sehen Sie, so.

5.9.11

PAUL CELAN: CORONA


PAUL CELAN


CORONA


Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.

4.9.11

RAINER MARIA RILKE: WIR SIND NUR MUND


RAINER MARIA RILKE


WIR SIND NUR MUND


Wir sind nur Mund. Wer singt das ferne Herz,
das heil inmitten aller Dinge weilt?
Sein grosser Schlag ist in uns eingeteilt
in kleine Schläge. Und sein grosser Schmerz
ist, wie sein grosser Jubel, uns zu gross.
So reissen wir uns immer wieder los
und sind nur Mund.

Aber auf einmal bricht
der grosse Herzschlag heimlich in uns ein,
so dass wir schrein —,
und sind dann Wesen, Wandlung und Gesicht.