29.12.10

ERNST WILHELM LOTZ: IN DEINEM ZIMMER




ERNST WILHELM LOTZ (1890-1914)






IN DEINEM ZIMMER




In deinem Zimmer fand ich meine Stätte,


In deinem Zimmer weiß ich, wer ich bin.


Ich liege tagelang in deinem Bette


Und schmiege meinen Körper an dich hin.




Ich fühle Tage wechseln und Kalender


Am Laken, das uns frisch bereitet liegt,


Ich staune manchmal still am Bettgeländer,


Wie himmlisch lachend man die Zeit besiegt.




Bisweilen steigt aus fernen Straßen unten


Ein Ton zu unserm Federwolkenraum,


Den schlingen wir verschlafen in die bunten


Gobelins, gewirkt aus Küssen, Liebe, Traum.

28.12.10

HEINRICH HEINE: DAS HOHELIED


HEINRICH HEINE (1797-1856)


DAS HOHELIED


Des Weibes Leib ist ein Gedicht,
Das Gott der Herr geschrieben
Ins große Stammbuch der Natur,
Als ihn der Geist getrieben.

Ja, günstig war die Stunde ihm,
Der Gott war hochbegeistert;
Er hat den spröden, rebellischen Stoff
Ganz künstlerisch bemeistert.

Fürwahr, der Leib des Weibes ist
Das Hohelied der Lieder;
Gar wunderbare Strophen sind
Die schlanken, weißen Glieder.

O welche göttliche Idee
Ist dieser Hals, der blanke,
Worauf sich wiegt der kleine Kopf,
Der lockige Hauptgedanke!

Der Brüstchen Rosenknospen sind
Epigrammatisch gefeilet;
Unsäglich entzückend ist die Zäsur,
Die streng den Busen teilet.

Den plastischen Schöpfer offenbart
Der Hüften Parallele;
Der Zwischensatz mit dem Feigenblatt
Ist auch eine schöne Stelle.

Das ist kein abstraktes Begriffspoem!
Das Lied hat Fleisch und Rippen,
Hat Hand und Fuß; es lacht und küßt
Mit schöngereimten Lippen.

Hier atmet wahre Poesie!
Anmut in jeder Wendung!
Und auf der Stirne trägt das Lied
Den Stempel der Vollendung.

Lobsingen will ich dir, o Herr,
Und dich im Staub anbeten!
Wir sind nur Stümper gegen dich,
Den himmlischen Poeten.

Versenken will ich mich, o Herr,
In deines Liedes Prächten;
Ich widme seinem Studium
Den Tag mitsamt den Nächten.

Ja, Tag und Nacht studier ich dran,
Will keine Zeit verlieren;
Die Beine werden mir so dünn –
Das kommt vom vielen Studieren.

26.12.10

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: KURZ UND GUT


JOHANN WOLFGANG VON GOETHE (1749-1832)


KURZ UND GUT


Sollt ich mich denn so ganz an sie gewöhnen?
Das wäre mir zuletzt doch reine Plage.
Darum versuch ichs gleich am heutgen Tage
Und nahe nicht dem vielgewohnten Schönen.

Wie aber mag ich dich, mein Herz, versöhnen,
Daß ich im wichtigen Fall dich nicht befrage?
Wohlan! Komm her! Wir äußern unsre Klage
In liebevollen, traurig heitern Tönen.

Siehst du, es geht! Des Dichters Wink gewärtig,
Melodisch klingt die durchgespielte Leier,
Ein Liebesopfer traulich darzubringen.

Du denkst es kaum, und sieh, das Lied ist fertig!
Allein was nun? – Ich dächt: im ersten Feuer
Wir eilten hin, es vor ihr selbst zu singen.

25.12.10

BERTOLT BRECHT: LIED EINER DEUTSCHEN MUTTER


BERTOLT BRECHT


LIED EINER DEUTSCHEN MUTTER


Mein Sohn, ich hab dir die Stiefel
Und dies braune Hemd geschenkt:
Hätt ich gewußt, was ich heute weiß
Hätt ich lieber mich aufgehängt.

Mein Sohn, als ich deine Hand sah
Erhoben zum Hitlergruß
Wußte ich nicht, daß dem, der ihn grüßet
Die Hand verdorren muß.

Mein Sohn, ich hörte dich reden
Von einem Heldengeschlecht.
Wußte nicht, ahnte nicht, sah nicht:
Du warst ihr Folterknecht.

Mein Sohn, und ich sah dich marschieren
Hinter dem Hitler her
Und wußte nicht, daß, wer mit ihm auszieht
Zurück kehrt er nimmermehr.

Mein Sohn, du sagtest mir, Deutschland
Wird nicht mehr zu kennen sein.
Wußte nicht, es würd werden
Zu Asche und blutigem Stein.

Sah das braune Hemd dich tragen
Habe mich nicht dagegen gestemmt.
Denn ich wußte nicht, was ich heut weiß:

Es war dein Totenhemd.

19.12.10

RAINER MARIA RILKE: ZUM FEST


RAINER MARIA RILKE (1875-1926)


ZUM FEST


Heut sind wir endlich allein, und von Gästen
droht uns ganz sicher heut keine Gefahr.
Schmück dich, mein Kind, zu der Liebe Festen,
rote Rosen stehn dir am besten,
rote Rosen steck dir ins Haar.

Und das Kleid nimm aus Großmutters Tagen,
mit den Ärmeln luftig gepufft.
Einmal kamst du mirs selber sagen:
Großmutter hats bei der Hochzeit getragen. -
Und in den Falten liegt noch der Duft.

6.12.10

BERTOLT BRECHT: GEGEN DIE OBJEKTIVEN


BERTOLT BRECHT


GEGEN DIE OBJEKTIVEN


Wenn die Bekämpfer des Unrechts
Ihre verwundeten Gesichter zeigen
Ist die Ungeduld derer, die in Sicherheit waren
Groß.

Warum beschwert ihr euch, fragen sie
Ihr habt das Unrecht bekämpft! Jetzt
Hat es euch besiegt: schweigt also!

Wer kämpft, sagen sie, muß verlieren können
Wer Streit sucht, begibt sich in Gefahr
Wer mit Gewalt vorgeht
Darf die Gewalt nicht beschuldigen.

Ach, Freunde, die ihr gesichert seid
Warum so feindlich? Sind wir
Eure Feinde, die wir Feinde des Unrechts sind?
Wenn die Kämpfer gegen das Unrecht besiegt sind
Hat das Unrecht doch nicht recht!!

Unsere Niederlagen nämlich
Beweisen nichts, als daß wir zu
Wenige sind
Die gegen die Gemeinheit kämpfen
Und von den Zuschauern erwarten wir
Daß sie wenigstens beschämt sind!

3.12.10

HEINRICH SEIDEL: AN MEINE KÖNIGIN


HEINRICH SEIDEL (1842-1906)


AN MEINE KÖNIGIN


Ich flocht dir eine Krone
Von Lindenlaub in's Haar,
Und du auf grünem Throne
Regiertest wunderbar.

Es war dein lieblich Scepter
Ein lichter Blüthenzweig -
Es kniete dir zu Füßen
Dein Unterthan im Reich.

Wie dien' ich dir so gerne -
Wie milde ist dein Sinn -
Wie lieblich ist dein Herrschen,
Du holde Königin.

20.11.10

FRIEDRICH WILHELM GUBITZ: NUR EINES KANN ICH!


FRIEDRICH WILHELM GUBITZ (1786-1870)


NUR EINES KANN ICH!


Gedenk' ich dein, kann ich nichts And'res thun,
Nun will mein Herz, daß dein ich stets gedenke!
Die Seel' ist thätig, mag die Hand d'rum ruh'n,
Gedank' an dich hat himmlische Geschenke.
Wenn Gott die Liljen, die nicht sae'n, nicht erndten,
Die nichts gelernt, in seiner Huld ernährt,
Wird Denen, die von Sehnsucht leben lernten,
Des Heilands Spruch gewißlich auch bewährt;
D'rum denk' ich dein, und ewig denk' ich dein,
Das And're all mag Gott empfohlen seyn!

19.11.10

HEDWIG KIESEKAMP: ANTWORT


HEDWIG KIESEKAMP (1844-1919)


ANTWORT


Fragst du mich, warum ich liebe?
Trauter Freund, - o glaube mir:
"Meine Liebe kommt vom Himmel,
Und der Himmel kommt von dir!"

Ohne dich - verlass'ne Wüste
Wäre mir das Himmelreich!
Aber dir am Herzen rastend
Fühl' ich mich den Engeln gleich.

Du allein bist sel'ges Ewig
Aller Himmelswonne mir!
Und vom Himmel kommt die Liebe!
Sieh', - die Liebe kommt von dir.

11.11.10

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: AN LINA




JOHANN WOLFGANG VON GOETHE


AN LINA


Liebchen, kommen diese Lieder
Jemals wieder Dir zur Hand,
Sitze beim Klaviere nieder,
Wo der Freund sonst bei Dir stand.

Lass die Saiten rasch erklingen
Und dann sieh ins Buch hinein;
Nur nicht lesen! Immer singen!
Und ein jedes Blatt ist Dein.

Ach, wie traurig sieht in Lettern,
Schwarz auf weiß, das Lied mich an,
Das aus Deinem Mund vergöttern,
Das ein Herz zerreißen kann!

29.10.10

GEORG HEYM: DIE MESSE


GEORG HEYM (1887-1912)


DIE MESSE


Bei dreier Kerzen mildem Lichte
Die Leiche schläft. Und hohe Mönche gehen
Um sie herum, und legen ihre Finger
Manchmal über ihr Angesicht.
Froh sind die Toten, die zur Ruhe kehren
Und strecken ihre weißen Hände aus,
Den Engeln zu, die groß und schattig gehen
Mit Flügelschlagen durch das hohe Haus.
Nur manchmal schallt ein Weinen durch die Wände,
Ein tiefes Schluchzen wälzt sich in der Lust.
Man kreuzet ihre hageren Finger-Hände
Zum Frieden sanft auf die verhaarte Brust.

18.9.10

HEINRICH HEINE: KUSSE, DIE MAN STIEHLT IM DUNKELN


HEINRICH HEINE


KUSSE, DIE MAN STIEHLT IM DUNKELN


Küsse, die man stiehlt im Dunkeln
Und im Dunkeln wiedergibt,
Solche Küsse, wie besel'gen
Sie die Seele, wenn sie liebt!

Ahnend und erinnrungsüchtig
Denkt die Seele sich dabei
Manches von vergangnen Tagen,
Und von Zukunft mancherlei.

Doch das gar zu viele Denken
Ist bedenklich, wenn man küßt; –
Weine lieber, liebe Seele,
Weil das Weinen leichter ist.

7.9.10

NOVALIS: AN JEANETTE


NOVALIS


AN JEANETTE


Nimm meine Bücher, meine kleinen Reime,
Mein Häuschen hin, und sei zufrieden wie ich bin,
Nimm meinen sanften Schlummer, meine Träume,
So hold sie sind, auch hin.

Und wenn mir ja noch etwas übrig bliebe,
Mein Becher, Kranz und Stab, so mag es deine sein;
Doch willst du mehr, mein Herz und meine Liebe?
Die sind schon lange dein.

31.8.10

LUDWIG UHLAND: DES DICHTERS ABENDGANG



LUDWIG UHLAND (1787-1862)


DES DICHTERS ABENDGANG


Ergehst du dich im Abendlicht
(Das ist die Zeit der Dichterwonne),
So wende stets dein Angesicht
Zum Glanze der gesunknen Sonne!
In hoher Feier schwebt dein Geist,
Du schauest in des Tempels Hallen,
Wo alles heil`ge sich erschleußt
Und himmliche Gebilde wallen.

Wann aber um das Heiligthum
Die dunkeln Wolken niederrollen,
Dann ists vollbracht, du kehrest um,
Beseligst von dem Wundervollen.
In stiller Rührung wirst du gehn,
Du trägst in dir des Liedes Segen;
Das Lichte, das du dort gesehn,
Umglänzt dich mild auf finstern Wegen.

15.8.10

FRIEDRICH MARTIN BODENSTEDT: DAS LEBEN IST EIN DARLEHN, KEINE GABE...


FRIEDRICH MARTIN BODENSTEDT (1819-1892)


DAS LEBEN IST EIN DARLEHN, KEINE GABE...


Das Leben ist ein Darlehn, keine Gabe
Du weißt nicht, wieviel Schritt du gehst zum Grabe,
Drum nütze klug die Zeit: auf jedem Schritt
Nimm das Bewußtsein deiner Pflichten mit.

Gewöhne dich – da stets der Tod dir dräut
Dankbar zu nehmen, was das Leben beut;
Die Wünsche nicht nach Äußerm zu gestalten,
Sondern den Kern im Innern zu entfalten;

Nicht fremder Meinung untertan zu sein,
Die Dinge nicht zu schätzen nach dem Schein;
Nicht zu verlangen, daß sie sollen gehn,
Wie wir es wünschen – sondern sie verstehn,

Daß wir uns bei Erfüllung unsrer Pflichten
(Da sie's nach uns nicht tun) nach ihnen richten.

14.8.10

RAINER MARIA RILKE: AUS EINEM FRÜHLING


RAINER MARIA RILKE (1875-1926)


AUS EINEM FRÜHLING


O alle diese Toten des April,
der Fuhren Schwärze, die sie weiterbringen
durch das erregte übertriebene Licht:
als lehnte sich noch einmal das Gewicht
gegen zuviel Leichtwerden in den Dingen
mürrischer auf... Da aber gehen schon,
die gestern noch die Kinderschürzen hatten,
erstaunt erwachsen zur Konfirmation;
ihr Weiß ist eifrig wie vor Gottes Thron
und mildert sich im ersten Ulmenschatten.

27.6.10

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: AN LUNA


JOHANN WOLFGANG VON GOETHE


AN LUNA


Schwester von dem ersten Licht,
Bild der Zärtlichkeit in Trauer!
Nebel schwimmt mit Silberschauer
Um dein reizendes Gesicht;
Deines leisen Fußes Lauf
Weckt aus tagverschloßnen Höhlen
Traurig abgeschiedne Seelen,
Mich und nächt'ge Vögel auf.

Forschend übersieht dein Blick
Eine großgemeßne Weite.
Hebe mich an deine Seite!
Gib der Schwärmerei dies Glück!
Und in wollustvoller Ruh'
Säh der weitverschlagne Ritter
Durch das gläserne Gegitter
Seines Mädchens Nächten zu.

Des Beschauens holdes Glück
Mildert solcher Ferne Qualen;
Und ich sammle deine Strahlen,
Und ich schärfe meinen Blick.
Hell und heller wird es schon
Um die unverhüllten Glieder,
Und nun zieht sie mich hernieder,
Wie dich einst Endymion.

12.6.10

WILHELM WAIBLINGER: SONETTENDICHTER


WILHELM WAIBLINGER (1804-1830)


SONETTENDICHTER

1.


Eins wie das andre! Journal und Almanach, Zeitung und tausend
Uebersetzungen macht nun man auf deutschem Parnaß.
Was ist Apoll geworden? Ein Spekulant, und Fabriken
Legt er sich an, und kaum treibt er's Papier noch sich auf.
Stets an der Press'! und die Hand, von der Druckerschwärze beschmutzet,
Wäscht er am Sonntag sich rein im kastalischen Quell.
In Italien aber, da schreibt man Sonette zusammen,
Anakreontica und Hendecasyllaben auch.
Tausende liest man vor in den Akademien am Tiber,
Professoren sind es, Monsignori dazu,
Cavalieri, Grafen, Abbati, Barone, Doktoren,
Alle Stände, doch fehlt einzig der Dichter dabei.

2.

Und sie conjugiren: ich liebe, du liebest, er liebet,
Ich bin, du bist, er ist - nichts als ein schlechter Poet.

8.6.10

GEORG TRAKL: DER TAU DES FRÜHLINGS


GEORG TRAKL (1887-1914)


DER TAU DES FRÜHLINGS


Der Tau des Frühlings, der von dunklen Zweigen
Niederfällt, es kommt die Nacht
Mit Sternenstrahlen, da des Lichtes du vergessen.

Unter dem Dornenbogen lagst du und es grub der Stachel
Sich tief in den kristallenen Leib
Daß feuriger sich die Seele der Nacht vermähle.

Es hat mit Sternen sich die Braut geziert,
Die reine Myrthe
Die sich über des Toten anbetendes Antlitz neigt.

Blühender Schauer voll
Umfängt dich endlich der blaue Mantel der Herrin.

30.5.10

JOSEPH VON EICHENDORFF: DIE NACHTBLUME


JOSEPH VON EICHENDORFF (1788-1857)


DIE NACHTBLUME

Nacht ist wie ein stilles Meer,
Lust und Leid und Liebesklagen
Kommen so verworren her
In dem linden Wellenschlagen.

Wünsche wie die Wolken sind,
Schiffen durch die stillen Räume,
Wer erkennt im lauten Wind,
Ob's Gedanken oder Träume?

Schließ ich nun auch Herz und Mund,
Die so gern den Sternen klagen;
Leise doch im Herzensgrund
Bleibt das linde Wellenschlagen.

17.5.10

RICHARD DEHMEL: AUFBLICK



RICHARD DEHMEL (1863-1920)


AUFBLICK

Über unsre Liebe hängt
eine tiefe Trauerweide.
Nacht und Schatten um uns beide.
Unsre Stirnen sind gesenkt.

Wortlos sitzen wir im Dunkeln.
Einstmals rauschte hier ein Strom,
einstmals sahn wir Sterne funkeln.

Ist denn Alles tot und trübe?
Horch –: ein ferner Mund –: vom Dom –

Glockenchöre... Nacht... Und Liebe ...

11.5.10

STEFAN GEORGE: STIMMEN IM STROM


STEFAN GEORGE (1868-1933)


STIMMEN IM STROM

Liebende klagende zagende wesen
Nehmt eure zufluch in unser bereich -
Werdet geniessen und werdet genesen -
Arme und worte umwinden euch weich.

Leiber wie muscheln - korallene lippen
Schwimmen und tönen in schwankem palast -
Haar verschlungen in ästigen klippen
Nahend und wieder vom strudel erfasst.

Bläuliche lampen die halb nur erhellen -
Schwebende säulen auf kreisendem schuh
Geigend erzitternde ziehende wellen
Schaukeln in selig beschauliche ruh.

Müdet euch aber das sinnen das singen -
Fliessender freuden bedächtiger lauf -
Trifft euch ein kuss: und ihr löst euch in ringen
Gleitet als wogen hinab und hinauf.

LUISE BÜCHNER: ERINNERUNG


LUISE BÜCHNER (1821-1877)


ERINNERUNG


Hier will ich sitzen und ruhen
An diesem lieblichen Ort,
Will schweifen lassen das Auge
Ins Weite von Ort zu Ort.

Will stille sitzen und denken
An Alles was ich geliebt,
Will Alles, Alles vergessen,
Was mich verletzt und betrübt.

Und kann ich es denn verbannen,
Woran ich nicht denken will?
Wie bleibt es beim frohen Erinnern
Im Herzen so öd und so still!

Es sind so innig verbunden
In mir die Freuden und Wehn,
Dass nur vereint sie entschlummern,
Vereinigt nur auferstehn!

8.5.10

HEINRICH HEINE: DAS FRÄULEIN STAND AM MEERE


HEINRICH HEINE (1797-1856)


DAS FRÄULEIN STAND AM MEERE


Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.

4.5.10

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: GEFUNDEN


JOHANN WOLFGANG VON GOETHE


GEFUNDEN

Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen
Das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich
Ein Blümchen steh'n,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.

Ich wollt' es brechen,
Da sagt' es fein:
"Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?"

Ich grub's mit allen
Den Würzlein aus,
Zum Garten trug ich's
Am hübschen Haus.

Und pflanzt' es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.

20.4.10

MAX DAUTHENDEY: DIE LUFT IST VOLL KOMMEN UND GEHEN


MAX DAUTHENDEY (1867-1918)


DIE LUFT IST VOLL KOMMEN UND GEHEN


Die blühenden blauen Kornraden,
Sie fielen mit den Ähren;
Das Korn liegt still in Schwaden
Im Sonnenschein, im schweren.

Kaum ein paar kurze Wochen
Sind die Felder glühend zu sehen;
Gleich muß die Sense dann pochen,
Und Stoppeln bleiben kalt stehen.

Wenn Augenblicke erwarmen,
Fühlt ihren Atem kaum wehen,
Da entsinken sie schon unsern Armen –
Die Luft ist voll Kommen und Gehen.

18.4.10

FRIEDRICH HÖLDERLIN: DER MENSCH


FRIEDRICH HÖLDERLIN (1770-1843)


DER MENSCH

Kaum sproßten aus den Wassern, o Erde, dir
Der jungen Berge Gipfel und dufteten
Lustatmend, immergrüner Haine
Voll, in des Ozeans grauer Wildnis

Die ersten holden Inseln; und freudig sah
Des Sonnengottes Auge die Neulinge,
Die Pflanzen, seiner ewgen Jugend
Lächelnde Kinder, aus dir geboren.

Da auf der Inseln schönster, wo immerhin
Den Hain in zarter Ruhe die Luft umfloß,
Lag unter Trauben einst, nach lauer
Nacht, in der dämmernden Morgenstunde

Geboren, Mutter Erde! dein schönstes Kind;-
Und auf zum Vater Helios sieht bekannt
Der Knab, und wacht und wählt, die süßen
Beere versuchend, die heilge Rebe

Zur Amme sich; und bald ist er groß; ihn scheun
Die Tiere, denn ein anderer ist, wie sie,
Der Mensch; nicht dir und nicht dem Vater
Gleicht er, denn kühn ist in ihm und einzig

Des Vaters hohe Seele mit deiner Lust,
O Erd ! und deiner Trauer von je vereint;
Der Göttermutter, der Natur, der
Allesumfassenden möchte er gleichen!

Ach ! darum treibt ihn, Erde! vom Herzen dir
Sein Übermut, und deine Geschenke sind
Umsonst und deine zarten Bande;
Sucht er ein Besseres doch, der Wilde!

Von seines Ufers duftender Wiese muß
Ins blütenlose Wasser hinaus der Mensch,
Und glänzt auch, wie die Sternenacht, von
Goldenen Früchten sein Hain, doch gräbt er

Sich Höhlen in den Bergen und späht im Schacht,
Von seines Vaters heiterem Lichte fern,
Dem Sonnengott auch ungetreu, der
Knechte nicht liebt und der Sorge spottet.

Denn freier atmen Vögel des Walds, wenn schon
Des Menschen Brust sich herrlicher hebt, und der
Die dunkle Zukunft sieht, er muß auch
Sehen den Tod, und allein ihn fürchten.

Und Waffen wider alle, die atmen trägt
In ewigbangem Stolze der Mensch; im Zwist
Verzehrt er sich und seines Friedens
Blume, die zärtliche, blüht nicht lange.

Ist er von allen Lebensgenossen nicht
Der seligste? Doch tiefer und reißender
Ergreift das Schicksal, allausgleichend,
Auch die entzündbare Brunst dem Starken.

27.3.10

FRIEDRICH SCHILLER: DER GRAF VON HABSBURG



FRIEDRICH VON SCHILLER (1759-1805)


DER GRAF VON HABSBURG


Zu Aachen, in seiner Kaiserpracht,
Im altertümlichen Saale,
Saß König Rudolfs heilige Macht
Beim festlichen Krönungsmahle.
Die Speisen trug der Pfalzgraf des Rheins,
Es schenkte der Böhme des perlenden Weins,
Und alle die Wähler die Sieben,
Wie der Sterne Chor um die Sonne sich stellt,
Umstanden geschäftig den Herrscher der Welt,
Die Würde des Amtes zu üben.

Und rings erfüllte den hohen Balkon
Das Volk in freud'gem Gedränge;
Laut mischte sich in der Posaunen Ton
Das jauchzende Rufen der Menge.
Denn geendigt nach langem verderblichen Streit
War die kaiserlose, die schreckliche Zeit,
Und ein Richter war wieder auf Erden.
Nicht blind mehr waltet der eiserne Speer,
Nicht fürchtet der Schwache, der Friedliche mehr
Des Mächtigen Beute zu werden.

Und der Kaiser ergreift den goldnen Pokal
Und spricht mit zufriedenen Blicken.
"Wohl glänzet das Fest, wohl pranget das Mahl,
Mein königlich Herz zu entzücken;
Doch den Sänger vermiss' ich, den Bringer der Lust,
Der mit süßem Klang mir bewege die Brust
Und mit göttlich erhabenen Lehren.
So hab' ich's gehalten von Jugend an,
Und was ich als Ritter gepflegt und getan,
Nicht will ich's als Kaiser entbehren."

Und sieh! in des Fürsten umgebenden Kreis
Trat der Sänger im langen Talare.
Ihm glänzte die Locke silberweiß,
Gebleicht von der Fülle der Jahre.
"Süßer Wohllaut schläft in der Saiten Gold,
Der Sänger singt von der Minne Sold,
Er preiset das Höchste, das Beste,
Was das Herz sich wünscht, was der Sinn begehrt,
Doch sage, was ist des Kaisers wert
An seinem herrlichsten Feste?"

"Nicht gebieten werd' ich dem Sänger," spricht
Der Herrscher mit lächelndem Munde,
"Er steht in des größeren Herren Pflicht,
Er gehorcht der gebietenden Stunde.
Wie in den Lüften der Sturmwind saust,
Man weiß nicht, von wannen er kommt und braust,
Wie der Quell aus verborgenen Tiefen,
So des Sängers Lied aus dem Innern schallt
Und wecket der dunklen Gefühle Gewalt,
Die im Herzen wunderbar schliefen."

Und der Sänger rasch in die Saiten fällt
Und beginnt sie mächtig zu schlagen:
"Auf's Waidwerk hinaus ritt ein edler Held,
Den flüchtigen Gamsbock zu jagen.
Ihm folgte der Knapp mit dem Jägergeschoß,
Und als er auf seinem stattlichen Roß
In eine Au kommt geritten,
Ein Glöcklein hört er erklingen fern,
Ein Priester war's mit dem Leib des Herrn,
Voran kam der Meßner geschritten.

Und der Graf sich zur Erde neiget hin,
Das Haupt mit Demut entblößet,
Zu verehren mit gläubigen Christensinn,
Was alle Menschen erlöset.
Ein Bächlein aber rauschte durch's Feld,
Von des Gießbachs reißenden Fluten geschwellt,
Das hemmt der Wandrer Tritte,
Und beiseit' legt jener das Sakrament,
Von den Füßen zieht er die Schuhe behend,
Damit er das Bächlein durchschritte.

Was schaffst du? redet der Graf ihn an,
Der ihn verwundert betrachtet.
Herr, ich walle zu einem sterbenden Mann,
Der nach der Himmelskost schmachtet.
Und da ich mich nahe des Baches Steg,
Da hat ihn der strömende Gießbach hinweg
Zum Strudel der Wellen gerissen.
Drum, daß dem Lechzenden werde sein Heil,
Da will ich das Wässerlein jetzt in Eil'
Durchwaten mit nackenden Füßen.

Da setzt ihn der Graf auf sein ritterlich Pferd,
Und reicht ihm die prächtigen Zäume,
Daß er labe den Kranken, der sein begehrt,
Und die heilige Pflicht nicht versäume.
Und er selber auf seines Knappen Tier
Vergnügt noch weiter des Jagens Begier;
Der andre die Reise vollführet,
Und am nächsten Morgen mit dankendem Blick,
Da bringt er dem Grafen sein Roß zurück,
Bescheiden am Zügel geführet.

Nicht wolle das Gott, rief mit Demutsinn
Der Graf, daß zum Streiten und Jagen
Das Roß ich bestiege fürderhin,
Das meinen Schöpfer getragen!
Und magst du's nicht haben zu eignem Gewinnst,
So bleibt es gewidmet dem göttlichen Dienst;
Denn ich hab' es dem ja gegeben,
Von dem ich Ehre und irdisches Gut
Zu Lehen trage mit Leib und Blut
Und Seele und Atem und Leben. -

So mög' auch Gott, der allmächtige Hort,
Der das Flehen der Schwachen erhöret,
Zu Ehren euch bringen hier und dort,
So wie ihr ihn jetzt geehret.
Ihr seid ein mächtiger Graf, bekannt
Durch ritterlich Walten im Schweizerland;
Euch blüh'n sechs liebliche Töchter.
So mögen sie, rief er begeistert aus,
Sechs Kronen euch bringen in euer Haus,
Und glänzen die spät'sten Geschlechter."

Und mit sinnenden Haupt saß der Kaiser da,
Als dächt' er vergangener Zeiten;
Jetzt, da er dem Sänger in's Auge sah,
Da ergreift ihn der Worte Bedeuten.
Die Züge des Priesters erkennt er schnell
Und verbirgt der Tränen stürzenden Quell
In den Mantels purpurnen Falten.
Und Alles blickte den Kaiser an
Und erkannte den Grafen, der das getan,
Und verehrte das göttliche Walten.

25.3.10

EMMANUEL GEIBEL: FÜR MUSIK


EMMANUEL GEIBEL (1815-1884)


FÜR MUSIK


Nun die Schatten dunkeln,
Stern an Stern erwacht:
Welch ein Hauch der Sehnsucht
Flutet in der Nacht!

Durch das Meer der Träume
Steuert ohne Ruh',
Steuert meine Seele
Deiner Seele zu.

Die sich dir ergeben,
Nimm sie ganz dahin!
Ach, du weißt, daß nimmer
Ich mein eigen bin.

21.3.10

RAINER MARIA RILKE: DUINESER ELEGIEN, DIE ERSTE ELEGIE


RAINER MARIA RILKE


DUINESER ELEGIEN: DIE ERSTE ELEGIE


Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf
dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht
irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich
wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern
und das verzogene Treusein einer Gewohnheit,
der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht.
O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum
uns am Angesicht zehrt —, wem bliebe sie nicht, die ersehnte,
sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen
mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter?
Ach, sie verdecken sich nur miteinander ihr Los.
Weißt du’s noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere
zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel
die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.

Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche
Sterne dir zu, daß du sie spürtest. Es hob
sich eine Woge heran im Vergangenen, oder
da du vorüberkamst am geöffneten Fenster,
gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag.
Aber bewältigtest du’s? Warst du nicht immer
noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles
eine Geliebte dir an? (Wo willst du sie bergen,
da doch die großen fremden Gedanken bei dir
aus und ein gehn und öfters bleiben bei Nacht.)
Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden; lange
noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl.
Jene, du neidest sie fast, Verlassenen, die du
so viel liebender fandst als die Gestillten. Beginn
immer von neuem die nie zu erreichende Preisung;
denk: es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm
nur ein Vorwand, zu sein: seine letzte Geburt.
Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur
in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte,
dieses zu leisten. Hast du der Gaspara Stampa
denn genügend gedacht, daß irgend ein Mädchen,
dem der Geliebte entging, am gesteigerten Beispiel
dieser Liebenden fühlt: daß ich würde wie sie?
Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen
fruchtbarer werden? Ist es nicht Zeit, daß wir liebend
uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn:
wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung
mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends.

Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur
Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf
aufhob vom Boden; sie aber knieten,
Unmögliche, weiter und achtetens nicht:
So waren sie hörend. Nicht, daß du Gottes ertrügest
die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre,
die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.
Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir.
Wo immer du eintratst, redete nicht in Kirchen
zu Rom und Neapel ruhig ihr Schicksal dich an?
Oder es trug eine Inschrift sich erhaben dir auf,
wie neulich die Tafel in Santa Maria Formosa.
Was sie mir wollen? leise soll ich des Unrechts
Anschein abtun, der ihrer Geister
reine Bewegung manchmal ein wenig behindert.

Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen,
kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben,
Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen
nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben;
das, was man war in unendlich ängstlichen Händen,
nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen
wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug.
Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen. Seltsam,
alles, was sich bezog, so lose im Raume
flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam
und voller Nachholn, daß man allmählich ein wenig
Ewigkeit spürt. — Aber Lebendige machen
alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden.
Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter
Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung
reißt durch beide Bereiche alle Alter
immer mit sich und übertönt sie in beiden.

Schließlich brauchen sie uns nicht mehr, die Früheentrückten,
man entwöhnt sich des Irdischen sanft, wie man den Brüsten
milde der Mutter entwächst. Aber wir, die so große
Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer so oft
seliger Fortschritt entspringt —: könnten wir sein ohne sie?
Ist die Sage umsonst, daß einst in der Klage um Linos
wagende erste Musik dürre Erstarrung durchdrang;
daß erst im erschrockenen Raum, dem ein beinah göttlicher Jüngling
plötzlich für immer enttrat, das Leere in jene
Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft.

7.3.10

HERMANN LÖNS: DAS NATTERNHEMD


HERMANN LÖNS (1866 – 1914)


DAS NATTERNHEMD


Jürgen der Jäger ging über die Haide,
Zwischen Mond und Sonne ging er hin,
Seine Augen träumten in die Ferne,
Nach seinem Traume stand sein Sinn,
Dem Traum, wie ein Schatten über dem Wasser,
Dem Traum, wie ein Eiland im Nebel fern;
So ging er hin, den Mond zur Rechten
Und linker Hand den guten Stern.

Er ging vom Morgen bis zum Mittag
Durch grüne Marsch und gelbes Moor,
Und ging von Mittag bis zum Abend,
Und als die Sonne die Kraft verlor,
Trat er in eine hohe Haide
Und blieb tief atemholend steh'n;
Er war in seinem fernen Traume,
In dem er sich die Nacht geseh'n.

Da waren sieben schwarze Fuhren
Geordnet in einem engen Kreis,
Da waren sieben schwarze Machangeln,
Düster oben und unten greis,
Da waren sieben blanke Bäche,
Nach sieben Seiten sprangen sie schnell:
Und waren sieben große goldne
Blumen gestellt um den Siebenquell.

Jürgen dem Jäger flog der Atem
Und seine Brust ging tief und schwer,
Es ging ein Rauschen über die Haide
Und ein Lachen flog von ihr her,
Ein silbernes Kichern, ein goldenes Lachen,
Wie Rotkehlchenlied und Nachtigallsang;
Jürgen der Jäger duckte im Schatten,
Sein junges Herz in der Brust ihm sprang,

Da waren sieben große Schlangen,
Sieben Zauberschlangen, schön und schlank,
Schimmernd in sieben hellen Farben,
Sieben Farben blitz und blank,
Sie tranken vom Siebenquell das Wasser
Mit ihren roten Züngelein,
Und waren nicht mehr sieben Schlangen,
Sieben schöne Fräulein mußten es sein.

Jürgen der Jäger schlich wie der Fuchs schleicht,
Schnell wie der Habicht griff er hin,
Von den sieben blanken Natternhemdchen
Das silberweiße war sein Gewinn;
Und er rief das Wort, das rosenrote,
Das er gerufen die letzte Nacht,
Als er aus seinem bunten Traume
Mit heißen Lippen war erwacht.

Sieben Jungfernschreie gellten schneidend
In die Abendstille hinein,
Sieben rosige Fräulein haschten jammernd
Nach ihren Natternhemdelein,
Zweimal drei Nattern von dannen rauschten,
Sechs Zaubernattern schön und groß;
Die allerschönste, siebenmal schönste
Die schlug die Hände vor Brust und Schoß.

In Jürgen des Jägers weißem Hause
Singt eine Stimme den ganzen Tag,
In Jürgen des Jägers buntem Garten
Da klingt's wie Nachtigallenschlag,
Und singt drei Monde und zweimal dreie,
Und als der neunte Mond zersprang,
In Jürgen des Jägers weißem Hause
Eine helle kleine Stimme erklang.

Und jedes Jahr eine neue Stimme,
Ein Kind mit Haaren gelb und hell,
Wie die sieben großen goldnen Blumen,
Die da blühen um den Siebenquell;
Sieben schöne Jahre, sieben schöne Kinder,
Es klingt, wie vieler Vöglein Schlag
In Jürgen des Jägers weißem Hause
Den ganzen lieben langen Tag.

Es rief eine Eule am hellen Mittag,
Es kam in das Land ein falsches Wort,
Es fiel ein Reif auf die Maienblüten,
Sie sind verwelket und verdorrt;
Ein bleicher Mann in schwarzer Kutte,
Ein Hexenbrenner, zog um im Land,
Flugfeuer war seines Mundes Rede,
Das steckte die stille Haide in Brand,

Es ging ein Flüstern von Hof zu Hofe
Und ging ein Raunen von Tor zu Tor,
An Jürgen des Jägers weißem Hause
Rankten sich giftige Blumen empor:
"Die Frau ist anders, als unsere Frauen,
Die Kinder sind schöner, als unsere sind,
Sie werden ohne Wehen geboren,
Giftsamen ist es, den hertrieb der Wind.

"Wenn die Blitze über die Haide fahren,
Steht sie am Tore und lacht und singt,
Und Helle heißt sie, das ist ein Name,
Der nach geheimen Künsten klingt."
Es flogen Blicke wie blanke Blitze,
Es fielen Worte voll Haß und Wut,
Es ballten Hände sich zu Fäusten,
Es roch die Luft nach Brand und Blut.

Jürgen der Jäger geht über die Haide
Mit Beute beladen und hinter ihm geht
Sein Sohn, stolz trägt er auf der Schulter
Des Vaters Waidewerksgerät;
Jürgen des Jägers Augen sind dunkel
Und fest geschlossen ist sein Mund,
Um die siebente Stunde heulte zum Himmel
Lange und bange sein treuer Hund.

Jürgen des Jägers Augen fliegen
Seinen schnellen Schritten voraus,
Sie suchen hinter dem Abendnebel
Am braunen Berge das weiße Haus;
Ein breiter Rauch steht an dem Himmel,
Eine schmale Flamme darunter weht;
Jürgen dem Jäger stockt der Atem,
Das Herz in der Brust ihm stille steht.

Was schleicht durch die Gassen und horcht an den Türen,
Was huscht auf dem Hofe und lauscht an der Wand,
Was ruschelt am Zaune und raschelt im Garten
Und rückt an dem Riegel mit heimlicher Hand?
Jürgen der Jäger ist auf der Pürsche,
Bittreres Waidewerk übte er nie,
Eine liebe Stimme hörte er weinen,
Eine liebe Seele nach ihm schrie.

Es klingt die Stimme aus tiefem Zwinger:
"Eia popeia, schlaf süß, mein Kind,
Eia popeia, es rief eine Eule,
Dein Vater weiß wohl, wo wir sind;
Suse la suse, ihr Kindelein schlafet,
Fest ist das Gitter, hart ist der Stein,
Suse la suse, wo sind geblieben
Die sieben Natternhemdelein?"

Es steht eine Weide am tiefen Borne,
Ihr silbernes Laub beweget der Wind,
In ihrem hohlen Leibe verborgen
Acht weiße Natternhemdchen sind;
Ein großes und sieben klimperkleine,
In jedem Jahr eins der Baum empfing,
Wenn in dem weißen Hause am Berge,
Wieder einmal die Wiege ging.

"O Weide, Weide, vieledle Zierde,
O Weide, Weide, ich bitte dich sehr,
Ich bitte dich auf meinen Knieen,
In meinem Herzeleid komme ich her;
Du sollst auch essen, was wir haben,
Und trinken sollst du, so gut wie wir,
O Weide, Weide, vieledle Zierde,
Gib sieben Natternhemdchen mir!"

Acht Pfeile kommen angeflogen,
Die geben alle hellichten Schein,
Um jedes Spitze ist gewunden
Ein blankes Natternhemdelein.
"Eia popeia, Ihr Kindelein kommet,
Suse la suse, und machet euch fein,
Es schrie eine Eule vor dem Gitter
Und brachte uns unsere Hemdelein."

Jürgen der Jäger weint blutige Tränen,
Acht blanke Nattern entschlüpfen dem Grund,
Er küßt eine jegliche sieben male,
Doch sieben mal sieben der einen Mund;
Acht Nattern rauschen über die Straße,
Wer weiß, wohin? Wo der Nachtwind weht;
Wo Jürgen der Jäger ging über die Haide,
Das Blut im grauen Moose steht.

Jürgen der Jäger geht über die Haide,
Zwischen Mond und Sonne geht er hin,
Seine Augen träumen in die Ferne,
Nach seinem Traume steht sein Sinn;
Dem Traum, wie ein Schatten in der Sonne,
Dem Traum, wie ein Eiland im Nebel fern,
Ein rotes Licht im schwarzen Moore,
Am düsteren Himmel ein blutiger Stern.

Er geht über Sümpfe, schwarz wie die Sünde,
Und über Moore, fahl wie der Tod,
Und über weite, breite Haiden,
Still wie die Nacht, wie Blut so rot;
Er tritt in eine greise Ödnis
Und bleibt tief atemholend steh'n,
Er ist in seinem fernen Traume,
In dem er sich die Nacht geseh'n.

Da ist ein Himmel, schwarz und schrecklich,
Rote Raben fliegen darunter her,
Da ist ein Wasser, tief und schlammig,
Das fließt so träge und so schwer,
Da ist ein schwarzes Zaubereiland
Mit einem Schloß, wie Gift so grün,
Da ist ein dumpfer, dunkler Garten,
In dem viel bleiche Blumen blüh'n.

Durch sieben Höfe geht Jürgen der Jäger,
Durch den weißen und gelben und blauen hin,
Hört nicht die Raben, sieht nicht die Schlangen,
Nach seinem Traume steht sein Sinn;
Geht durch den roten Hof und den grünen
Und durch den Hof, wie Haidmoos grau,
Mit den großen grauen Totenblumen,
Gefüllt mit grauem Todestau.

Es schreien und kreischen die roten Raben,
Die giftigen Schlangen werden laut,
Ihn kümmert kein Kreischen und kein Zischen,
Seinen schwarzen schweren Traum er schaut;
Die hohe Halle, tot und schweigend
Wie eine schwarze Winternacht,
Und dennoch laut von leisen Stimmen,
Und dennoch hell von dunkeler Pracht.

Es sitzt auf ihrem gold'nen Throne
Die böse Otternkönigin,
Es winden sich um ihre Füße
Acht blanke weiße Nattern hin,
Acht schöne schlanke weiße Nattern,
Die eine groß, die andern klein,
Die Natternmutter und sieben kleine
Feine Natternkindelein.

Es schreien und kreischen die roten Raben
Unter dem schwarzen Himmel hin,
In bösem Brande glimmern und flimmern
Die Augen der Otternkönigin;
Sie zischt ihm hellen Hohn entgegen,
Heischt gierig Lohn und Lösegeld:
"Dein rotes Herz mußt du mir lassen,
Du hast ja sonst nichts auf der Welt!

"Das Herz, das Herz, das rote Herze,
Das heiße Herz aus deiner Brust,
Ein Otternherz kennt keine Wonne,
Ein Menschenherz ist voller Lust!"
Die Raben hören auf zu rufen,
Die giftigen Schlangen zischen nicht mehr,
Jürgen der Jäger geht über die Haide,
Die große Otter lacht hinter ihm her.

Auf Jürgen des Jägers weißem Hause
Da schreit die Eule jedwede Nacht,
In Jürgen des Jägers buntem Garten
Keine frohe Stimme singt und lacht;
Die Kinder spielen scheu und heimlich
Das Spiel von dem verlornen Herz;
In Jürgen des Jägers weißem Hause
Da weht die Luft nur Leid und Schmerz.

Jung Ebert faltet seine Brauen,
Langt von der Wand des Vaters Wehr;
Die Nacht ist ihm ein Traum erschienen,
Ein Traum so schön und groß und schwer;
Jung Ebert schreitet über die Haide,
Zwischen Mond und Sonne geht er hin,
Seine Augen gehen grade Wege,
Ein schwarzer Traum liegt ihm im Sinn.

Er geht durch Moore, schwarz wie die Sünde
Und geht durch die Brüche, fahl wie der Tod,
Und durch die weiten breiten Haiden,
Still wie die Nacht, wie Blut so rot;
Und findet zu dem toten Bache
Und nach dem Schloß, wie Gift so grün,
Und durch den dumpfen dunklen Garten,
In dem die blassen Blumen blüh'n.

Er geht durch die sieben bunten Höfe
Und tritt in die schwarze Halle ein,
Die Augen der Otternkönigin sprühen
Entgegen ihm mit rotem Schein;
Jung Eberts Augen fröhlich lachen,
Sie lachen, wie bei Spiel und Scherz,
Im Leibe der Otternkönigin leuchtet
Warm und rot das verlorene Herz.

"Das Herz, das Herz, das rote Herze,
Das heiße Herz aus deiner Brust,
Ich will dir geben, was ich habe,
Aber das Herz du lassen mußt!"
"Willst du das Herz, das rote Herze,
Was gibst du Lohn und Lösegeld?"
"Dein junges Herz mußt du mir geben,
Du hast ja sonst nichts auf der Welt!"

Jung Ebert lacht ihr in die Augen:
"Mein junges Herz bleibt immer mein,
Mein rotes Herz hört Vater und Mutter,
Und nie soll es dein eigen sein!"
Es kreischen und schreien die roten Raben,
Eine blanke Klinge blitzt und blinkt,
Auf der Otternkönigin Scheitel klirrend
Der rote Karfunkelstein zerspringt.

Jung Ebert schreitet über die Haide,
Zwischen Mond und Sonne geht er hin,
Seine Augen gehen gradenweges
Zu dem weißen Hause am Berge hin;
Er singt eine alte Jägerweise
Über das rote Haideland,
Das rote Schwert trägt seine Rechte,
Das rote Herz seine linke Hand.

Vor Jürgen des Jägers weißem Hause
Schreit keine Nacht die Eule mehr,
In Jürgen des Jägers weißem Hause
Ist keine Brust mehr tot und leer;
Es singen viele helle Stimmen
Von früh dort bis zum späten Tag,
In Jürgen des Jägers weißem Hause,
Da klingt's wie Nachtigallenschlag.

24.2.10

HERMANN HESSE: VOLL BLÜTEN


HERMANN HESSE (1877-1962)


VOLL BLÜTEN


Voll Blüten steht der Pfirsichbaum
nicht jede wird zur Frucht,
sie schimmern hell wie Rosenschaum
durch Blau und Wolkenflucht.

Wie Blüten gehn Gedanken auf,
hundert an jedem Tag –
Lass blühen! Lass dem Ding den Lauf!
Frag nicht nach dem Ertrag!

Es muss auch Spiel und Tanze sein
und Blütenüberfluss,
sonst wäre die Welt uns viel zu klein
und Leben kein Genuss.

BESS BRENCK-KALISCHER: DIE TÄNZERIN


BESS BRENCK-KALISCHER (1878-1933)


DIE TÄNZERIN


Denn tanzen muss sie.
Dem tollen Rad verflochten
Gliedert sie Chaos,
Schwendet Quellen,
Stampft zuckende Krater.
Im Drang
Des großen Taktes
Tanzt sie Gestirne.

18.2.10

HEINRICH HEINE: ICH HALTE IHR DIE AUGEN ZU


HEINRICH HEINE (1797-1856)


ICH HALTE IHR DIE AUGEN ZU


Ich halte ihr die Augen zu
Und küß sie auf den Mund;
Nun läßt sie mich nicht mehr in Ruh,
Sie fragt mich um den Grund.

Von Abend spät bis Morgens fruh,
Sie fragt zu jeder Stund:
Was hältst du mir die Augen zu,
Wenn du mir küßt den Mund?

Ich sag ihr nicht, weshalb ichs tu,
Weiß selber nicht den Grund.
Ich halte ihr die Augen zu
Und küß ihr auf den Mund.

9.2.10

PAUL BOLDT: LIEBESMORGEN


PAUL BOLDT (1885-1921)


LIEBESMORGEN


Aus dem roten, roten Pfühl
kriecht die Sonne auf die Dielen,
Und wir blinzeln nur und schielen
Nach uns, voller Lichtgefühl.

Wie die Rosa-Pelikane,
Einen hellen Fisch umkrallend,
Rissen unsere Lippen lallend
Kuß um Kuß vom weißen Zahne.

Und nun, eingerauscht ins weiche
Nachgefühl der starken Küsse,
Liegen wir wie junge Flüsse
Eng umsonnt in einem Teiche.

Und wir lächeln gleich Verzückten;
Lachen gibt der Garten wieder,
Wo die jungen Mädchen Flieder,
Volle Fäuste Flieder pflückten.

23.1.10

FRIEDRICH HÖLDERLIN: DIE LIEBE


FRIEDRICH HÖLDERLIN (1770-1843)


DIE LIEBE


Wenn ihr Freunde vergeßt, wenn ihr die Euern all,
  O ihr Dankbaren, sie, euere Dichter schmäht,
    Gott vergeb es, doch ehret
      Nur die Seele der Liebenden.

Denn o saget, wo lebt menschliches Leben sonst,
  Da die knechtische jetzt alles, die Sorge, zwingt?
    Darum wandelt der Gott auch
      Sorglos über dem Haupt uns längst.

Doch, wie immer das Jahr kalt und gesanglos ist
  Zur beschiedenen Zeit, aber aus weißem Feld
    Grüne Halme doch sprossen,
      Oft ein einsamer Vogel singt,

Wenn sich mählich der Wald dehnet, der Strom sich regt,
  Schon die mildere Luft leise von Mittag weht
    Zur erlesenen Stunde,
      So ein Zeichen der schönern Zeit,

Die wir glauben, erwächst einziggenügsam noch,
  Einzig edel und fromm über dem ehernen,
    Wilden Boden die Liebe,
      Gottes Tochter, von ihm allein.

Sei gesegnet, o sei, himmlische Pflanze, mir
  Mit Gesange gepflegt, wenn des ätherischen
    Nektars Kräfte dich nähren,
      Und der schöpfrische Strahl dich reift.

Wachs und werde zum Wald! eine beseeltere,
  Vollentblühende Welt! Sprache der Liebenden
    Sei die Sprache des Landes,
      Ihre Seele der Laut des Volks!

16.1.10

GEORG HEYM: TRÄUMEREI IN HELLBLAU


GEORG HEYM (1850-1920)


TRÄUMEREI IN HELLBLAU


Alle Landschaften haben
Sich mit Blau gefüllt.
Alle Büsche und Bäume des Stromes,
Der weit in den Norden schwillt.

Blaue Länder der Wolken,
Weiße Segel dicht,
Die Gestade des Himmels in Fernen
Zergehen in Wind und Licht.

Wenn die Abende sinken
Und wir schlafen ein,
Gehen die Träume, die schönen,
Mit leichten Füßen herein.

Zymbeln lassen sie klingen
In den Händen licht.
Manche flüstern, und halten
Kerzen vor ihr Gesicht.


September 1911

15.1.10

ERNST BLASS: AN GLADYS


ERNST BLASS (1890-1939)


AN GLADYS


  O du, mein holder Abendstern ...
        Richard Wagner

So seltsam bin ich, der die Nacht durchgeht,
Den schwarzen Hut auf meinem Dichterhaupt.
Die Straßen komme ich entlang geweht.
Mit weichem Glücke bin ich ganz belaubt.

Es ist halb eins, das ist ja noch nicht spät...
Laternen schlummern süß und schneestaubt.
Ach, wenn jetzt nur kein Weib an mich gerät
Mit Worten, schnöde, roh und unerlaubt!

Die Straßen komme ich entlang geweht,
Die Lichter scheinen sanft aus mir zu saugen,
Was mich vorhin noch von den Menschen trennte;

So seltsam bin ich, der die Nacht durchgeht...
Freundin, wenn ich jetzt dir begegnen könnte,
Ich bin so sanft, mit meinen blauben Augen.

13.1.10

BERTOLT BRECHT: BALLADE VON DEN SEERÄUBERN


BERTOLT BRECHT


BALLADE VON DEN SEERÄUBERN


Von Branntwein toll und Finsternissen,
Von unerhörten Güssen nass.
Vom Frost eiskalter Nacht zerrissen
Im Mastkorb, von Gesichten blass.
Von Sonne nackt gebrannt und krank,
(Die hatten sie im Winter lieb)
Aus Hunger, Fieber und Gestank
Sang alles, was noch übrig blieb:

Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Lasst Wind und Himmel fahren! Nur
Lasst uns um Sankt Marie die See!

Kein Weizenfeld mit milden Winden,
Selbst keine Schenke mit Musik,
Kein Tanz mit Weibern und Absinthen,
Kein Kartenspiel hielt sie zurück.
Sie hatten vor dem Knall das Zanken,
Vor Mitternacht die Weiber satt.
Sie lieben nur verfaulte Planken
Ihr Schiff, das keine Heimat hat.

Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Lasst Wind und Himmel fahren! Nur
Lasst uns um Sankt Marie die See!

Mit seinen Ratten, seinen Löchern,
Mit seiner Pest, mit Haut und Haar.
Sie fluchten wüst darauf beim Bechern
Und liebten es, so wie es war.
Sie knoten sich mit ihren Haaren
Im Sturm in seinem Mastwerk fest.
Sie würden nur zum Himmel fahren,
Wenn man dort Schiffe fahren lässt.

Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Lasst Wind und Himmel fahren! Nur
Lasst uns um Sankt Marie die See!

Sie morden kalt und ohne Hassen
Was ihnen in die Zähne springt.
Sie würgen Gurgeln so gelassen
Wie man ein Tau ins Mastwerk schlingt.
Sie trinken Sprit bei Leichenwachen,
Nachts torkeln trunken sie in See.
Und die, die übrig bleiben, lachen
Und winken mit der kleinen Zeh:

Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Lasst Wind und Himmel fahren! Nur
Lasst uns um Sankt Marie die See!

Sie leben schön wie noble Tiere
Im weichen Wind, im trunknen Blau.
Und oft besteigen sieben Stiere
Eine geraubte fremde Frau.
Die hellen Sternennächte schaukeln
Sie mit Musik in süße Ruh.
Und mit geblähten Segeln gaukeln
Sie unbekannten Meeren zu.

Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Lasst Wind und Himmel fahren! Nur
Lasst uns um Sankt Marie die See!

Doch eines Abends im Aprile,
Der keine Sterne für sie hat,
Hat sie das Meer in aller Stille
Auf einmal plötzlich selber satt.
Der große Himmel, den sie lieben
Hüllt still in Rauch die Sternensicht
Und die geliebten Winde schieben
Die Wolken in das milde Licht.

Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Lasst Wind und Himmel fahren! Nur
Lasst uns um Sankt Marie die See!

Sie fühlen noch, wie voll Erbarmen
Das Meer mit ihnen heute wacht.
Dann nimmt der Wind sie in die Arme
Und tötet sie vor Mitternacht.
Und ganz zuletzt in höchsten Masten
War es, weil Sturm so gar laut schrie
Als ob sie, die zur Hölle rasten
Noch einmal sangen, laut wie nie:

Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Lasst Wind und Himmel fahren! Nur
Lasst uns um Sankt Marie die See!

12.1.10

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING: DIE ENTE


GOTTHOLD EPHRAIM LESSING (1729-1781)


DIE ENTE


Ente, wahres Bild von mir,
Wahres Bild von meinen Brüdern!
Ente, jetzo schenk ich dir
Auch ein Lied von meinen Liedern.

Oft und oft muß dich der Neid
Zechend auf dem Teiche sehen.
Oft sieht er aus Trunkenheit
Taumelnd dich in Pfützen gehen.

Auch ein Tier – – o das ist viel!
Hält den Satz für wahr und süße,
Daß, wer glücklich leben will,
Fein das Trinken lieben müsse.

Ente, ists nicht die Natur,
Die dich stets zum Teiche treibet?
Ja, sie ists; drum folg ihr nur.
Trinke, bis nichts übrig bleibet.

Ja, du trinkst und singst dazu.
Neider nennen es zwar schnadern;
Aber, Ente, ich und du
Wollen nicht um Worte hadern.

Wem mein Singen nicht gefällt,
Mag es immer Schnadern nennen.
Will uns nur die neidsche Welt
Als versuchte Trinker kennen.

Aber, wie bedaur ich dich,
Daß du nur mußt Wasser trinken.
Und wie glücklich schätz ich mich,
Wenn mir Weine dafür blinken.

Armes Tier, ergib dich drein.
Laß dich nicht den Neid verführen.
Denn des Weins Gebrauch allein
Unterscheidet uns von Tieren.

In der Welt muß Ordnung sein.
Menschen sind von edlern Gaben.
Du trinkst Wasser, und ich Wein:
So will es die Ordnung haben.

11.1.10

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: NÄHE DES GELIEBTEN


JOHANN WOLFGANG VON GOETHE (1749-1832)


NÄHE DES GELIEBTEN


Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
    Vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
    In Quellen malt.

Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
    Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
    Der Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
    Die Welle steigt.
Im stillen Haine geh' ich oft zu lauschen,
    Wenn alles schweigt.

Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,
    Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
    O wärst du da!

8.1.10

AUGUST STRAMM: SPIEL


AUGUST STRAMM


SPIEL


Deine Finger perlen
Und
Kollern Stoßen Necken Schmeicheln
Quälen Sinnen Schläfern Beben
Wogen um mich.
Die Kette reißt!
Dein Körper wächst empor!
Durch Lampenschimmer sinken deine Augen
Und schlürfen mich
Und
Schlürfen schlürfen
Dämmern
Brausen!
Die Wände tauchen!
Raum!
Nur
Du!

1.1.10

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: AUF DEM SEE


JOHANN WOLFGANG VON GOETHE (1749-1832)


AUF DEM SEE


Und frische Nahrung, neues Blut
Saug' ich aus freier Welt;
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertakt hinauf,
Und Berge, wolkig himmelan,
Begegnen unserm Lauf.

Aug', mein Aug', was sinkst du nieder?
Goldne Träume, kommt ihr wieder?
Weg, du Traum! so Gold du bist;
Hier auch Lieb' und Leben ist.

Auf der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne,
Weiche Nebel trinken
Rings die türmende Ferne;
Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht,
Und im See bespiegelt
Sich die reifende Frucht.