27.6.10

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: AN LUNA


JOHANN WOLFGANG VON GOETHE


AN LUNA


Schwester von dem ersten Licht,
Bild der Zärtlichkeit in Trauer!
Nebel schwimmt mit Silberschauer
Um dein reizendes Gesicht;
Deines leisen Fußes Lauf
Weckt aus tagverschloßnen Höhlen
Traurig abgeschiedne Seelen,
Mich und nächt'ge Vögel auf.

Forschend übersieht dein Blick
Eine großgemeßne Weite.
Hebe mich an deine Seite!
Gib der Schwärmerei dies Glück!
Und in wollustvoller Ruh'
Säh der weitverschlagne Ritter
Durch das gläserne Gegitter
Seines Mädchens Nächten zu.

Des Beschauens holdes Glück
Mildert solcher Ferne Qualen;
Und ich sammle deine Strahlen,
Und ich schärfe meinen Blick.
Hell und heller wird es schon
Um die unverhüllten Glieder,
Und nun zieht sie mich hernieder,
Wie dich einst Endymion.

12.6.10

WILHELM WAIBLINGER: SONETTENDICHTER


WILHELM WAIBLINGER (1804-1830)


SONETTENDICHTER

1.


Eins wie das andre! Journal und Almanach, Zeitung und tausend
Uebersetzungen macht nun man auf deutschem Parnaß.
Was ist Apoll geworden? Ein Spekulant, und Fabriken
Legt er sich an, und kaum treibt er's Papier noch sich auf.
Stets an der Press'! und die Hand, von der Druckerschwärze beschmutzet,
Wäscht er am Sonntag sich rein im kastalischen Quell.
In Italien aber, da schreibt man Sonette zusammen,
Anakreontica und Hendecasyllaben auch.
Tausende liest man vor in den Akademien am Tiber,
Professoren sind es, Monsignori dazu,
Cavalieri, Grafen, Abbati, Barone, Doktoren,
Alle Stände, doch fehlt einzig der Dichter dabei.

2.

Und sie conjugiren: ich liebe, du liebest, er liebet,
Ich bin, du bist, er ist - nichts als ein schlechter Poet.

8.6.10

GEORG TRAKL: DER TAU DES FRÜHLINGS


GEORG TRAKL (1887-1914)


DER TAU DES FRÜHLINGS


Der Tau des Frühlings, der von dunklen Zweigen
Niederfällt, es kommt die Nacht
Mit Sternenstrahlen, da des Lichtes du vergessen.

Unter dem Dornenbogen lagst du und es grub der Stachel
Sich tief in den kristallenen Leib
Daß feuriger sich die Seele der Nacht vermähle.

Es hat mit Sternen sich die Braut geziert,
Die reine Myrthe
Die sich über des Toten anbetendes Antlitz neigt.

Blühender Schauer voll
Umfängt dich endlich der blaue Mantel der Herrin.