31.12.11

MAX HERMANN-NEISSE: NACHT IM STADTPARK


MAX HERMANN-NEISSE


NACHT IM STADTPARK


Ein schmales Mädchen ist sehr liebevoll
Zu einem Leutnant, der verloren stöhnt,
Ein Korpstudent mokiert sich, frech, verwöhnt,
Und eine schiefe Schneppe kreischt wie toll.

Ein Refrendar bemüht sich ohne Glück
Um eine Kellnerin, die Geld begehrt,
Ein Abgeblitzter macht im Dunkeln kehrt,
Und eine Nutte schwebt zerzaust zurück.

Zwei Unbestimmte prügeln einen Herrn,
Mit Uniformen zankt ein Zivilist,
Ein Jüngling merkt, daß er betrogen ist,
Und zwei Verschmolzne haben schnell sich gern.

Ein starker Bolzen und ein Musketier
Sind ganz in eine graue Bank verwebt,
Ein Gent an einem Ladenfräulein klebt,
Ein greiser Onkel schnuppert geil und stier.

Ein Weib mit bloßem Kopf wird sehr gemein,
Ein Louis lauert steif und rührt sich nicht,
Ein Frechdachs leuchtet jeder ins Gesicht,
Und ein Kommis umfaßt ein weiches Bein.

Es raschelt in den Sträuchern ungewiß
Und tappt gesträubt auf einen steifen Hut,
Die Bäche liegen still wie schwarzes Blut,
Und Bäume fallen aus der Finsternis.

Ein Johlen rollt die Straße hin und stirbt,
Ein Wurf ins Wasser, irgendwo, ganz dumpf,
Ein Mauerwerk wächst wie ein Riesenrumpf,
Ein unbekanntes Tier erwacht und zirpt.

Zwei Männer flüstern einen finstern Plan,
Ein welkes Wesen wehrt sich hoffnungslos,
Ein Schüler hat ein Bahnerweib im Schoß,
Im Teich zieht schwer ein ruheloser Schwan.

Und Sterne stolpern in die tiefe Nacht,
Und Obdachlose liegen wie erstarrt,
Und bleiern hängt der Mond, und hohl und hart
Glotzt breit ein Turm, verstockt und ungeschlacht.

23.12.11

NOVALIS: AN JULIEN


NOVALIS


AN JULIEN


Daß ich mit namenloser Freude
Gefährte deines Lebens bin
Und mich mit tiefgerührtem Sinn
Am Wunder deiner Bildung weide -
Daß wir aufs innigste vermählt
Und ich der Deine, du die Meine,
Daß ich von allen nur die Eine
Und diese Eine mich gewählt,
Dies danken wir dem süßen Wesen,
Das sich uns liebevoll erlesen.

O! laß uns treulich ihn verehren,
So bleiben wir uns einverleibt.
Wenn ewig seine Lieb uns treibt,
So wird nichts unser Bündnis stören.
An seiner Seite können wir
Getrost des Lebens Lasten tragen
Und selig zu einander sagen:
Sein Himmelreich beginnt schon hier,
Wir werden, wenn wir hier verschwinden,
In seinem Arm uns wiederfinden.

22.12.11

PAUL WERTHEIMER: STÄNDCHEN


PAUL WERTHEIMER (1874-1937)


STÄNDCHEN


Vernimmst du meiner Geige sehnsuchtstollen
Aufschrei der nachtgebor'nen Melodien?
Ich will mit Liedern wie mit wundervollen
Blumenguirlanden deine Stirn umziehen.

Du meine Welt, du mein geheimes Wissen!
Was ist mir der Erkenntnis Sternenklarheit!
In Nachtviolen, Rosen und Narzissen,
In meinem Traum von dir ist meine Wahrheit!

6.12.11

H[ANS] G[ÜNTHER] ADLER: ANTWORT


H[ANS] G[ÜNTHER] ADLER (1910-1988)


ANTWORT


Einsam gemessene siedende Klage
Sag ich an um dich, du Geliebte.
Ich erahne dich nur, doch erfühl ich dich nicht,
Meine Seele ist schwach geworden.

Wenn ich erstorben in grausamen Wogen
Meine Weise flehentlich wage,
Da erschallt es in mir mit gewaltigem Braus:
Leid, ein drohender Haufen Qualen.

Unstet ein Schatten bist du nun geworden,
Schatten bin ich selbst jetzt, umgürtet,
Und ich lausche hinaus in den stäubenden Rausch,
Ob ich Rufe von dir erhorche.

Jedoch vergebens vertrau ich dem Schatten,
Nirgend hör ich mehr als die Klage,
Wie ich selbst ins Getös der Unendlichkeit schrie.
Antwort . . . Nimmer wird sie ertönen,

Antwort, ach Antwort auf glühende Fragen . . .
Spür ich deinen Ruf, du Geliebte?
Ich erfühle dich wohl, aber fasse dich nicht.
Antwort? – Antwort gibt es nie wieder.

6.11.11

AXEL KUTSCH: GANG DURCH EIN GEDICHT


AXEL KUTSCH (1945)


GANG DURCH EIN GEDICHT


Treten Sie ein.
Genieren Sie sich nicht.
Schon sind Sie mitten
in einem Gedicht.

Gehen Sie weiter.
Bleiben Sie nicht steh'n,
damit Sie die Verse
bis zum Ende seh'n.

Seien Sie locker
und nicht so bang.
Schlendern Sie entspannt
die Zeilen entlang.

Atmen Sie ruhig.
Laufen Sie nie.
Hast ist die Feindin
der Poesie.

Betrachten Sie noch
einmal mit Bedacht,
was der Autor sich
für Sie ausgedacht.

Nun sind Sie bereits
am Ausgang des Gedichts
und sehen betroffen:
Eigentlich nichts.

21.10.11

FRIEDRICH RÜCKERT: WIEDERSEHEN


FRIEDRICH RÜCKERT (1788-1866)


WIEDERSEHEN

Deine Kinder, hier verloren,
Wirst du droben wiedersehn;
Denn was aus dir ist geboren,
Kann dir nicht verloren gehn.

Daß du einst sie wiedersehest,
Dieses kannst du wohl verstehn,
Wenn du auch nicht das verstehest,
Wie du sie wirst wiedersehn.

Nicht als Kinder; oder wolltest
Du sie ewig halten klein?
Nicht gealtert; oder solltest
Du entfremdet ihnen sein?

Die hier streitenden Gestalten,
Dort, wo sie verglichen sind,
Wo nicht Mann und Weib sich spalten,
Trennt sich auch nicht Greis und Kind.

11.10.11

RAINER MARIA RILKE: DIE LIEBENDEN


RAINER MARIA RILKE (1875-1926)


DIE LIEBENDEN


Sieh, wie sie zueinander erwachsen:
in ihren Adern wird alles Geist.
Ihre Gestalten beben wie Achsen,
um die es heiß und hinreißend kreist.

Dürstende, und sie bekommen zu trinken,
Wache und sieh: sie bekommen zu sehn.
Lass sie ineinander sinken,
um einander zu überstehn.

8.10.11

ERNST STADLER: IN DER FRÜHE


ERNST STADLER (1883-1914)


IN DER FRÜHE


Die Silhouette deines Leibs steht in der Frühe dunkel vor dem trüben Licht
Der zugehangnen Jalousien. Ich fühl, im Bette liegend, hostiengleich mir zugewendet dein Gesicht.
Da du aus meinen Armen dich gelöst, hat dein geflüstert »Ich muß fort« nur an die fernsten Tore meines Traums gereicht -
Nun seh ich, wie durch Schleier, deine Hand, wie sie mit leichtem Griff das weiße Hemd die Brüste niederstreicht...
Die Strümpfe... nun den Rock... das Haar gerafft... schon bist du fremd, für Tag und Welt geschmückt...
Ich öffne leis die Türe... küsse dich... du nickst, schon fern, ein Lebewohl... und bist entrückt.
Ich höre, schon im Bette wieder, wie dein sachter Schritt im Treppenhaus verklingt,
Bin wieder im Geruche deines Körpers eingesperrt, der aus den Kissen strömend warm in meine Sinne dringt.
Morgen wird heller. Vorhang bläht sich. Junger Wind und erste Sonne will herein.
Lärmen quillt auf... Musik der Frühe... sanft in Morgenträume eingesungen schlaf ich ein.

6.10.11

H[ANS] G[ÜNTHER] ADLER: HOCHZEIT


H[ANS] G[ÜNTHER] ADLER (1910-1988)


HOCHZEIT


Du bist geliebt in der Nacht, und das letzte Wort ist
Gesprochen, müde geweint des Herbstes Schwere
Und eingebrochen stumm ein sichtloser Umgang
Zu sicherem Schutz

In meinen Armen. Versichert bist du, ich hüte
Wissend dich einsam an mich geschmiegt in stiller
Gewalt und halte schweigend eng dich an meinen
Behütenden Leib.

Wie tröstlich wird es um uns in verdeckter Stube,
Wir sind gerettet. Ich rühre deine Lippen
Getrost, der Küsse Fluten, deiner Umarmung
Unendliche Lust

Erschüttert. Gib dich nun preis, wie ich dir mich gebe
Mit ganzem Herzen gesammelt, froh und ernst vor
Gestauter Freude! Nimm, genieße mein Herz nun
Und kühle die Glut

Uns beiden jetzt mit dem Duft, mit dem Tau, vermähle
Der Seelen Spiele zur Hochzeit! Lösch das Licht aus
Zur Nacht! Da wird ein Schutz in sichtlosem Umgang,
Vereinigt mit dir

In weiß erhobenem Glanz, da ein letztes Wort ist
Gesprochen, reif in des Herbstes Schwere tröstlich
Geweint, denn Gnade schenkt nun unsrer Umarmung
Unendliche Lust.

4.10.11

ALFRED LICHTENSTEIN: NACH DEM BALL

ALFRED LICHTENSTEIN (1889-1914)


NACH DEM BALL


Die Nacht kriecht in die Keller, muffig matt.
Glanzkleider torkeln durch der Straßen Schutt.
Gesichter sind verschimmelt und kaputt.
Kühl brennt der blaue Morgen auf der Stadt.

Wie bald Musik und Tanz und Gier zerrann ...
Es riecht nach Sonne. Und der Tag beginnt
Mit Schienenwagen, Pferden, Schrei und Wind.
Ein Mann streicht einen Herrenrumpf grau an.

Alltag und Arbeit staubt die Menschen ein.
Familien fressen stumm ihr Mittagsmahl.
Durch einen Schädel schwingt noch oft ein Saal,
Viel dumpfe Sehnsucht und ein Seidenbein.

3.10.11

GEORG TRAKL: AN DIE VERSTUMMTEN


GEORG TRAKL


AN DIE VERSTUMMTEN


O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend
  An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren,
  Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut;
  Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt.
  O, das versunkene Läuten der Abendglocken.
Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt.
  Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne des Besessenen,
  Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht.
  O, das gräßliche Lachen des Golds.
Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit,
  Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt.

22.9.11

JAKOB VAN HODDIS: HE!


JAKOB VAN HODDIS


HE!


Abend war's: Die Gänse schnattern
Heimwärts in die Abendsonne.
- Denkt der Stadtherr poesievoll.

Ha! Der Vater mit dem Sohne
- Auf dem Zündloch der Kanone -
Geht aufs Tempelhofer Feld.

Kürassiere schreiten richtig,
Vater nimmt die Sache wichtig:
„Sohn, o Sohn, o werde tüchtig!“

Ha! Er gibt den Rat ihm nun,
Die unerhörte Tat zu tun,
Endlich ein Genie zu sein.

Ha! Aus seiner stillen Klause
Wo er korrigierend thront,
Steigt ein blasser Oberlehrer
Und beschaut den roten Mond.

„Einst als gelockter Jüngling in der Bar
Sah ich begeistert mancher Dame Schwips.
O, überirdisch himmlisch stand ihr Haar
Zur Rötlichkeit des Sherry Brandy Flips.“

6.9.11

AXEL KUTSCH: ANLEITUNG


AXEL KUTSCH (1945)


ANLEITUNG

Wenn Sie ein Gedicht lesen,
dann lesen Sie es am besten so,
sehen Sie, so.
Selbstverständlich können Sie
es auch anders lesen.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten.
Beispielsweise so.
Oder so.
Ich habe einen Mann gekannt,
der Gedichte so las.
Aber er war eine Ausnahme.
Die meisten lesen Gedichte so.
Ja, genau so.
Haben Sie schon einmal
ein Gedicht so gelesen?
Nein, nicht so, sondern so.
Ich sage Ihnen, es bringt nicht viel,
wenn man ein Gedicht so liest.
Man liest es besser so.
Verbindliche Regeln gibt es nicht.
Aber glauben Sie mir:
Sie haben mehr von einem Gedicht,
wenn Sie es so lesen –
sehen Sie, so.

5.9.11

PAUL CELAN: CORONA


PAUL CELAN


CORONA


Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.

4.9.11

RAINER MARIA RILKE: WIR SIND NUR MUND


RAINER MARIA RILKE


WIR SIND NUR MUND


Wir sind nur Mund. Wer singt das ferne Herz,
das heil inmitten aller Dinge weilt?
Sein grosser Schlag ist in uns eingeteilt
in kleine Schläge. Und sein grosser Schmerz
ist, wie sein grosser Jubel, uns zu gross.
So reissen wir uns immer wieder los
und sind nur Mund.

Aber auf einmal bricht
der grosse Herzschlag heimlich in uns ein,
so dass wir schrein —,
und sind dann Wesen, Wandlung und Gesicht.

27.8.11

YVAN GOLL: ICH LIEBE


YVAN GOLL (1891-1950)


ICH LIEBE


Aus beiden Augen strahlt meine goldene Liebe
In beiden Händen zittert die furchtsame Liebe
In meinen Schläfen klopft die gefangene Liebe
Mein Lied ist Liebe
Mein Schweigen ist Liebe
Mein Tanz ist Liebe
Meine Krankheit ist Liebe
Der Frühling ist Liebe
November ist Liebe
Ich lebe aus Liebe
Ich sterbe vor Liebe

20.8.11

ALFRED LICHTENSTEIN: NEBEL


ALFRED LICHTENSTEIN (1889-1914)


NEBEL

Ein Nebel hat die Welt so weich zerstört.
Blutlose Bäume lösen sich in Rauch.
Und Schatten schweben, wo man Schreie hört.
Brennende Biester schwinden hin wie Hauch.

Gefangne Fliegen sind die Gaslaternen.
Und jede flackert, daß sie noch entrinne.
Doch seitlich lauert glimmend hoch in Fernen
Der giftge Mond, die fette Nebelspinne.

Wir aber, die, verrucht, zum Tode taugen,
Zerschreiten knirschend diese wüste Pracht.
Und stechen stumm die weißen Elendsaugen
Wie Spieße in die aufgeschwollne Nacht.

18.8.11

STEFAN GEORGE: WIR SCHREITEN AUF UND AB IM REICHEN FLITTER


STEFAN GEORGE (1868-1933)


WIR SCHREITEN AUF UND AB IM REICHEN FLITTER


Wir schreiten auf und ab im reichen flitter
Des buchenganges beinah bis zum tore
Und sehen aussen in dem feld vom gitter
Den mandelbaum zum zweitenmal im flore .

Wir suchen nach den schattenfreien bänken
Dort wo uns niemals fremde stimmen scheuchten ·
In träumen unsre arme sich verschränken ·
Wir laben uns am langen milden leuchten

Wir fühlen dankbar wie zu leisem brausen
Von wipfeln strahlenspuren auf uns tropfen
Und blicken nur und horchen wenn in pausen
Die reifen früchte an den boden klopfen.

8.8.11

REINER KUNZE: DIE LIEBE


REINER KUNZE (1933)


DIE LIEBE


Die liebe
ist eine wilde rose in uns
Sie schlägt ihre wurzeln
in den augen,
wenn sie dem blick des geliebten begegnen
Sie schlägt ihre wurzeln
in den wangen,
wenn sie den hauch des geliebten spüren
Sie schlägt ihre wurzeln in der haut des armes,
wenn ihn die hand des geliebten berührt
Sie schlägt ihre wurzeln,
wächst wuchert
und eines abends
oder eines morgens
fühlen wir nur:
sie verlangt
raum in uns

Die liebe
ist eine wilde rose in uns,
unerforschbar vom verstand
und ihm nicht untertan
Aber der verstand
ist ein messer in uns

Der verstand
ist ein messer in uns,
zu schneiden der rose
durch hundert zweige
einen himmel

7.8.11

AXEL KUTSCH: FEIER DES WORTES


AXEL KUTSCH (1945)



FEIER DES WORTES


Bevor Sie dieses Gedicht betreten,
ziehen Sie sich bitte die Schuhe aus.
Sie werden vom Autor darum gebeten.
Sparen Sie am Ende nicht mit Applaus.

Haben Sie sich schon die Hände gewaschen?
Nein? Dann wird es aber höchste Zeit.
Begegnen Sie Dichtung nicht mit der laschen
Einstellung Ihrer Alltäglichkeit.

Was glauben Sie denn, wo Sie gerade weilen?
Hier findet eine Feier des Wortes statt.
Spüren Sie nicht den Wohlklang der Zeilen,
die der Autor für Sie geschrieben hat?

Da darf er ein bißchen Respekt verlangen.
Nehmen Sie gefälligst Haltung an.
Gerade sitzen! Nicht so durchgehangen
wie ein versoffener Liederjan.

Die Zähne sollten Sie sich auch noch putzen.
Ein Gedicht verträgt keinen Mundgeruch.
Oder geht es Ihnen darum, zu beschmutzen,
was Sie mehr fordert als ein Kalenderspruch?

Lesen Sie langsam. Nehmen Sie sich Zeit.
Sorgen Sie noch für gedämpftes Licht.
Sind Sie jetzt endlich soweit?
Dann genießen Sie dieses Gedicht.

6.8.11

H[ANS] G[ÜNTHER] ADLER: AUS ALTEN HINDERNISSEN


H[ANS] G[ÜNTHER] ADLER (1910-1988)


AUS ALTEN HINDERNISSEN


Nach mir verblieben Wunder des Gedächtnisses.
Fremd glühn die Farben meiner Kleider, heraus
Gesucht, da alles fremd im Traum zerinnert
Allen Flüssen fast verschwommen ist. Lebt wohl,

Ihr ärmelweiten Bogenschützen, Rede nun aus
Steilen Dämmerungen! Kümmert ihr euch um der
Verblaßten willen, in geheime Länder jählings
Fortgefahren! Zerrissen fern versiedelt in

Die Fremde! Ihr guten Stammesbrüder, keiner weiß
Euch recht, der Heimat in den Grund gesunken.
Mich, der nichts kennt von mir, will mich ins
Neue fahren. In jedem Schweigen türmt das Leid

Sich seine Gräber. So zieht das Alter in das
Bewußte abschiedstrocken hin in die Verluste.
Mühsam erhebt sich, was ich bin, sehr unbekannt
Ein Ausflug nur von mir aus alten Hindernissen

3.6.11

MAX DAUTHENDEY: NIE WAR DIE EINE LIEBESNACHT...


MAX DAUTHENDEY (1867-1918)


NIE WAR DIE EINE LIEBESNACHT...


Nie war die eine Liebesnacht
In deinem Schoß der andern gleich,
Dein Leib ist ein Septembermond
An immer neuen Früchten reich.

Die Brüste sind ein Traubenpaar,
Und drinnen pocht der junge Wein,
Die Augen sind ein Himmelstor
Und lassen meine Wünsche ein.

29.4.11

AGNES FRANZ: LIEBE KANN NICHT UNTERGEHN!


AGNES FRANZ (1794-1843)


LIEBE KANN NICHT UNTERGEHN!


Wenn sie fremd sich von uns kehren,
Die wir treu und heiß geliebt,
Wenn kein Blick uns Antwort giebt
Auf des Kummers bange Zähren:
Da, o Liebe, halt' uns fest!
Zeige, daß Du uns geblieben,
Wenn auch das, was Menschen lieben,
Wandelnd, treulos sie verläßt!

Du bist ewig! Nur die Thoren
Klagen, Du sey'st wandelbar!
Eh' des Menschen Tag noch war,
War'st Du, Herrliche, geboren!
Du wirst leben, Du wirst seyn,
Wenn der Sonne Glanz versunken!
Deines Lichtes Götterfunken
Hüllet keine Dämm'rung ein!

Darum kannst Du auch nicht scheiden;
Wir nur scheiden uns von Dir!
Andern Göttern huld'gen wir,
Dir zur Trauer, uns zum Leiden!
Was uns kränkte, uns betrog,
War des Wahnes Truggebilde,
Das, statt Deiner Göttermilde,
Der Bethörte an sich zog.

Ruhig schauest Du von oben
In des Träumers wirre Nacht,
Bis er, weinend aufgewacht,
Nun den Schleier hat gehoben.
Da, - ein Stern, der nie verlischt,
Gehst du auf dem Kummervollen,
Bis der Reue Thränen rollen,
Und sich Schmerz mit Wonne mischt.

Und es bricht sich des Geschickes
Und des Hasses finstre Macht,
Alles Grau'n der alten Nacht,
An dem Lächeln Deines Blickes!
Und es tönet von den Höh'n:
"Wie auch, Mensch, Dein Lieben schwanke,
Wie, was Du geliebt, auch wanke:
Liebe kann nicht untergehn!"

25.4.11

BERTOLT BRECHT: VOM ERTRUNKENEN MÄDCHEN


BERTOLT BRECHT


VOM ERTRUNKENEN MÄDCHEN

1

Als sie ertrunken war und hinunterschwamm
Von den Bächen in die größeren Flüsse
Schien der Opal des Himmels sehr wundersam
Als ob er die Leiche begütigen müsse.

2
Tang und Algen hielten sich an ihr ein
So daß sie langsam viel schwerer ward.
Kühl die Fische schwammen an ihrem Bein
Pflanzen und Tiere beschwerten noch ihre letzte Fahrt.

3
Und der Himmel ward abends dunkel wie Rauch
Und hielt nachts mit den Sternen das Licht in der Schwebe.
Aber früh ward er hell, daß es auch
Noch für sie Morgen und Abend gebe.

4
Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war
Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß
Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar.
Dann ward sie Aas in Flüssen mit vielem Aas.

21.4.11

JULIUS MOSEN: BRENNENDE LIEBE


JULIUS MOSEN (1803-1867)


BRENNENDE LIEBE


In meinem Garten lachet
Manch Blümlein blau und rot,
Vor allem aber machet
Die brennende Liebe mir Not.

Brauch ihrer nicht zu warten,
Sie blühet Tag und Nacht,
Wer hat mir nur zum Garten
Die brennende Liebe gebracht?

Wohin ich mich nur wende,
Blüht auch die holde Blum',
Es blühet sonder Ende
Die brennende Liebe ringsum.

Die bösen Nachbarinnen,
sie bleiben neidvoll stehn.
sie flüstern: Ach, da drinnen
Blüht brennende Liebe so schön!

19.4.11

FRIEDRICH RÜCKERT: DU BIST DIE RUH'


FRIEDRICH RÜCKERT (1788-1866)


DU BIST DIE RUH'


Du bist die Ruh'
Der Friede mild,
Die Sehnsucht du
Und was sie stillt.

Ich weihe dir
Voll Lust und Schmerz
Zur Wohnung hier
Mein Aug' und Herz.

Kehr' ein bei mir,
Und schließe du
Still hinter dir
Die Pforten zu.

Treib andern Schmerz
Aus dieser Brust!
Voll sei dies Herz
Von deiner Lust.

Dies Augenzelt
Von deinem Glanz
Allein erhellt,
O füll' es ganz.

16.4.11

JOSEPH VON EICHENDORFF: DER WEGELAGERER


JOSEPH VON EICHENDORFF


DER WEGELAGERER


Es ist ein Land, wo die Philister thronen,
Die Krämer fahren und das Grün verstauben,
Die Liebe selber altklug feilscht mit Hauben –
Herr Gott, wie lang willst du die Brut verschonen!

Es ist ein Wald, der rauscht mit grünen Kronen,
Wo frei die Adler horsten, und die Tauben
Unschuldig girren in den grünen Lauben,
Die noch kein Fuß betrat – dort will ich wohnen!

Dort will ich nächtlich auf die Krämer lauern
Und kühn zerhaun der armen Schönheit Bande,
Die sie als niedre Magd zu Markte führen.

Hoch soll sie stehn auf grünen Felsenmauern,
Daß mahnend über alle stillen Lande
Die Lüfte nachts ihr Zauberlied verführen.

23.3.11

HUGO BALL: WOLKEN


HUGO BALL


WOLKEN


elomen elomen lefitalominal
wolminuscalo
baumbala bunga
acycam glastula feirofim flinsi

elominuscula pluplubasch
rallalalaio

endremin saxassa flumen flobollala
fellobasch falljada follidi
flumbasch

cerobadadrada
gragluda gligloda glodasch
gluglamen gloglada gleroda glandridi

elomen elomen lefitalominal
wolminuscalo
baumbala bunga
acycam glastala feirofim blisti
elominuscula pluplusch
rallabataio

3.3.11

AUGUST GRAF VON PLATEN-HALLERMÜNDE: ALS ICH GESEHEN DAS ERSTE MAL DICH HABE


AUGUST GRAF VON PLATEN-HALLERMÜNDE (1796-1835)


[ALS ICH GESEHEN DAS ERSTE MAL DICH HABE]


Als ich gesehn das erste Mal dich habe,
Schienst du mir schön, wiewohl von Stolz befangen,
Die Stimmen tönten und die Gläser klangen,
Und bald verschwandst du wieder, schöner Knabe!

Indessen griff ich nach dem Wanderstabe,
Doch blieb ein leiser Wunsch im Herzen hangen,
Und Schneelawinen gleichet das Verlangen,
Es wächst und wächst, damit es uns begrabe.

Dann ward ich, als ich wieder dich gefunden,
Und mehr und mehr gelernt, dich treu zu lieben,
Aufs neu getrennt von dir und neu verbunden.

So hat das Glück uns hin und her getrieben
Im Wechseltrug der wandelvollen Stunden,
Und nur dein Stolz und deine Schönheit blieben.

HEINRICH SEIDEL: DAS SONETT


HEINRICH SEIDEL (1842-1906) DAS SONETT

So recht geeignet ist für spitz verzwickte
Verschnörkelte Ideen die verzwackte
Sonettenform, und für modern befrackte
Gedanken eine wunderbar geschickte.

Und wer von Weisheit nur ein Körnlein pickte
Und von Ide’n nur ein Ideelein packte,
Der zwängt es gerne in die höchst vertrackte
Sonettenhaut, die viel und oft geflickte.

Die Freude dann, wenn ihm das Glück dann glückte
Und schwitzend er sein Nichts zusammenstückte,
Darob er manche Stunde mühsam hockte!

Doch hilft’s ihm nimmer, dass er drückt’ und druckte,
Weil gähnend ob dem künstlichen Produkte
Die Menschheit ruhig einschläft, die verstockte.

7.2.11

JAKOB VAN HODDIS: STADT




JAKOB VAN HODDIS (1887-1942)


STADT


Wie schön ist diese stolze Stadt der Gierde!
Ihr Elend und geschmähter Überfluß
Und schwerer Straßen sehr verzerrte Zierde.

Schamloser Tag entdeckt dir die Konturen.
Die Häuser stehn befleckt mit Staub und Ruß,
Es flirrt um Eilende und Wagenhaufen
Furchtsame Weiber, Männer, blasse Huren...

Ich starre lange in die schnelle Pracht
Ein Dumpfes ahnend drunten im Gedränge -
Ich weiß wie sie des blöden Tages Strenge
Gewaltig preisen: daß er herrschen macht.

[ Es zieht sie nur zur wohlumbauten Enge.]

Komm! laß uns warten auf die kranke Nacht
Der schweren dröhnenden Gedankenpränge.

6.2.11

WALTER HASENCLEVER: 1917


WALTER HASENCLEVER (1890-1940)


1917


Halte wach den Hass. Halte wach das Leid.
Brenne weiter am Stahl der Einsamkeit.

Glaube nicht, wenn du liest auf diesem Papier,
ein Mensch ist getötet, er gleicht nicht dir.

Glaube nicht, wenn du siehst den entsetzlichen Zug
Einer Mutter, die ihren Kleinen trug.

Aus dem rauchenden Kessel der brüllenden Schlacht,
Das Unglück ist nicht von Dir gemacht.

Heran zu den elenden Leichenschein,
Wo aus Fetzen starrt eines Toten Bein.

Bei dem fremden Mann, vom Wurm zernagt,
Falle nieder, du, sei angeklagt.

Empfange die ungeliebte Qual
Aller Verstoß'nen in diesem Mal.

Ein letztes Aug', das am Äther trinkt,
Den Ruf, der in Verdammnis sinkt;

Die brennende Wildnis der schreienden Luft.
Den rohen Stoß in die kalte Gruft.

Wenn etwas in deiner Seele bebt,
Das dies Grauen überlebt.

So lass es wachsen, auferstehn
Zum Sturm, wenn die Zeiten unter gehn.

Tritt mit der Posaune des jüngsten Gerichts
Hervor, o Mensch, aus tobendem Nichts!

Wenn die Schergen dich schleppen aufs Schafott,
Halte fest die Macht! Vertraue auf Gott:

Das in der Menschen Mord, Verrat,
Einst wieder leuchte die gute Tat;

Des Herzen Kraft, der Edlen Sinn
Schwebt am gestirnten Himmel hin.

Das die Sonne, die auf Gute und Böse scheint,
Durch soviel Ströme der Welt geweint,

Gepulst durch unser aller Schlag,
Einst wieder strahle gerechtem Tag.

Halte wach den Hass. Halte wach das Leid.
Brenne weiter, Flamme! Es naht die Zeit.

15.1.11

RICHARD DEHMEL: VENUS HOMO



RICHARD DEHMEL (1863-1920)


VENUS HOMO

Bettle nicht vor mir mit deinen Brüsten,
deinen Brüsten bin ich kalt;
tausend Jahre alt
ist dein Blick mit seinen Lüsten.

Sieh mich an, wie Du als Braut getan:
mit dem Blick des Grauens vor der Schlange!
Viel zu lange
war ich, Weib, dein Mann.

Willst du Gift aus meiner Wurzel saugen?
unverwundbar bin ich deinem Biss!
Folge mir ins Paradies:
sieh mich an mit deinen Menschenaugen...

2.1.11

WOLF BIERMANN: NOCH


WOLF BIERMANN


NOCH


1
Ein kleiner Regen hat mich gewaschen
Am Himmel ziehn leere Brauseflaschen
Frabrikschlote wuchern drüben am Hang
Rauchnasen laufen den Windweg lang
Wälder sind das da, das nasse Blau
Das da sind Halden, das große Grau
Rot blühn paar Fahnen da auf dem Bau
Das Land ist still
Der Krieg genießt seinen Frieden
Still. Das Land ist still. Noch.

2
Die Schieferdächer schachteln sich wirr
Geklammert an Essen mit Eisengeschirr
Starrt das Antennengestrüpp nach West
Vom Sonnenball steht noch ein roter Rest
Krähen sind das da, was fällt und schreit
Blüten sind unter die Bäume geschneit
Was da jetzt einbricht, ist Dunkelheit
Das Land ist still
Wie Grabsteine stehen die Häuser
Still. Das Land ist still. Noch.

3
Dann hing ich im D-Zug am Fenster, und
Der Fahrtwind preßte mir Wind in' Mund
Die Augen gesteinigt vom Kohlestaub
Ohren von kreischenden Rädern taub
Hörte ich schwingen im Schienenschlag
Lieder vom Frühling im roten Prag
Und die Gitarre im Kasten lag
Das Land ist still
Die Menschen noch immer wie tot
Still. Das Land ist still. Noch