29.7.12

ALFRED LICHTENSTEIN: DIE NACHT



ALFRED LICHTENSTEIN


DIE NACHT

Verträumte Polizisten watscheln bei Laternen.
Zerbrochne Bettler meckern, wenn sie Leute ahnen.
An manchen Ecken stottern starke Straßenbahnen,
Und sanfte Autodroschken fallen zu den Sternen.

Um harte Häuser humpeln Huren hin und wieder,
Die melancholisch ihren reifen Hintern schwingen.
Viel Himmel liegt zertrümmert auf den herben Dingen...
Wehleid'ge Kater schreien schmerzhaft helle Lieder.

28.7.12

BERTOLT BRECHT: LIED EINES FREUDENMÄDCHENS


BERTOLT BRECHT


LIED EINES FREUDENMÄDCHENS

Meine Herren, mit siebzehn Jahren
Kam Ich auf den Liebesmarkt
Und Ich habe viel erfahren
Böses gab es viel
Doch das war das Spiel
Aber manches hab ich doch verargt.
(Schlie
βlich bin ich ja auch ein Mensch.)

Gott sei Dank geht alles schnell vorüber
Auch die Liebe und der Kummer sogar.
Wo sind die Tränen von gestern Abend?
Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?

Freilich geht man mit den Jahren
Leichter auf den Liebesmarkt
Und umarmt sie dort in Scharen.
Aber das Gefühl
Bleibt erstaundlich kühl
Wenn man damit allzuwenig kargt.
(Schlie
βlich geht ja jede Vorrat zu Ende.)

Gott sei Dank geht alles schnell vorüber
Auch die Liebe und der Kummer sogar.
Wo sind die Tränen von gestern Abend?
Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?

Und auch wenn man gut das Handeln
Lernte auf der Liebesmess’:
Lust in Kleingeld zu verwandeln
Ist doch niemals leicht.
Nun, es wird erreicht.
Doch man wird auch alter unterdes.
(Schlie
βlich bleibt man ja nicht immer siebzehn.)

Gott sei Dank geht alles schnell vorüber
Auch die Liebe und der Kummer sogar.
Wo sind die Tränen von gestern Abend?
Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?
Wo sind die Tränen von gestern Abend?
Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?

27.7.12

EDUARD MÖRIKE: UM MITTERNACHT



EDUARD MÖRIKE


UM MITTERNACHT

Gelassen stieg die Nacht an Land,
lehnt träumend an der Berge Wand;
ihr Auge sieht die goldne Waage nun
der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn.
Und kecker rauschen die Quellen hervor, 
  sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr 
    vom Tage,
    vom heute gewesenen Tage!

Das uralt alte Schlummerlied,
sie achtet's nicht, sie ist es müd;
ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
der flücht'gen Stunden gleichgeschwungnes Joch.
  Doch immer behalten die Quellen das Wort,
  es singen die Wasser im Schlafe noch fort
    vom Tage,
    vom heute gewesenen Tage!

9.7.12

HERMANN CONRADI: WAS FRAG’ ICH NACH ZEIT UND STUNDE



HERMANN CONRADI (1862-1890)


WAS FRAG’ ICH NACH ZEIT UND STUNDE

Was frag' ich nach Zeit und Stunde,
Wenn an deiner Brust ich lieg' -
Wenn ich küsse von deinem Munde
Der Liebe süßseligen Sieg!
Wenn ich küsse die weißen Brüste,
Den knospenden, schwellenden Leib -
Was frag' ich nach Zeit und Stunde,
Bei solch holdem Zeitvertreib!...

Was frag' ich nach Zeit und Stunde,
Rast' ich auf Linnen, schneeweiß,
Bei dir und trink' dir vom Munde
Der Liebe süßseligen Preis!
Da füllt mich ein großes Genügen,
Mein wildes Begehren versinkt ...
Was frag' ich nach Zeit und Stunde,
Wenn die Welt wie verschollen mich dünkt!...