20.10.14

GEORG TRAKL: SOMMERSNEIGE




GEORG TRAKL


SOMMERSNEIGE

Der grüne Sommer ist so leise
Geworden, dein kristallenes Antlitz.
Am Abendweiher starben die Blumen,
Ein erschrockener Amselruf.

Vergebliche Hoffnung des Lebens.
Schon rüstet Zur Reise sich die Schwalbe im Haus
Und die Sonne versinkt am Hügel;
Schon winkt zur Sternenreise die Nacht.

Stille der Dörfer; es tönen rings
Die verlassenen Wälder. Herz,
Neige dich nun liebender
Über die ruhige Schläferin.

Der grüne Sommer ist so leise
Geworden und es läutet der Schritt
Des Fremdlings durch die silberne Nacht
Gedichte ein blaues Wild seines Pfads,
Des Wohllauts seiner geistlichen Jahre!

17.10.14

REINER KUNZE: UNWIRKLICHER MAITAG




REINER KUNZE


UNWIRKLICHER MAITAG

So sehr blühten die kirsch-und mostbirnbäume,
daß sie sich verwandelten
in weißes gewölk

Das dorf, eingeblüht,
schwebte davon

Mit unserem weißen haar
täuschten wir vor dazuzugehören
und wurden schwerelos

5.10.14

MATTHIAS CLAUDIUS: CRISTIANE




MATTHIAS CLAUDIUS


CRISTIANE

Es stand ein Sternlein am Himmel,
Ein Sternlein guter Art;
Das tät so lieblich scheinen,
So lieblich und so zart!

Ich wußte seine Stelle
Am Himmel, wo es stand;
Trat abends vor die Schwelle,
Und suchte, bis ich's fand;

Und blieb denn lange stehen,
Hatt große Freud in mir:
Das Sternlein anzusehen;
Und dankte Gott dafür.

Das Sternlein ist verschwunden;
Ich suche hin und her
Wo ich es sonst gefunden,
Und find es nun nicht mehr.

4.10.14

HEINRICH HEINE: AN EINE SÄNGERIN





HEINRICH HEINE


AN EINE SÄNGERIN

Als sie eine alte Romanze sang
Ich denke noch der Zaubervollen,
Wie sie zuerst mein Auge sah!
Wie ihre Töne lieblich klangen
Und heimlich süß ins Herze drangen,
Entrollten Tränen meinen Wangen -
Ich wußte nicht, wie mir geschah.

Ein Traum war über mich gekommen:
Mir war, als sei ich noch ein Kind,
Und säße still, beim Lämpchenscheine,
In Mutters frommem Kämmerleine,
Und läse Märchen wunderfeine,
Derweilen draußen Nacht und Wind.

Die Märchen fangen an zu leben,
Die Ritter steigen aus der Gruft;
Bei Ronzisvall da gibts ein Streiten,
Da kommt Herr Roland herzureiten,
Viel kühne Degen ihn begleiten,
Auch leider Ganelon, der Schuft.

Durch den wird Roland schlimm gebettet,
Er schwimmt in Blut, und atmet kaum;
Kaum mochte fern sein Jadghornzeichen
Das Ohr des großen Karls erreichen,
Da mußt der Ritter schon erbleichen -
Und mit ihm stirbt zugleich mein Traum.

Das war ein laut verworrnes Schallen,
Das mich aus meinen Träumen rief.
Verklungen war jetzt die Legende,
Die Leute schlugen in die Hände,
Und riefen »Bravo!« ohne Ende;
Die Sängerin verneigt sich tief.