21.4.16

THEODOR DÄUBLER: DIE SONNENBLUME




THEODOR DÄUBLER


DIE SONNENBLUME

Du Blume, die sich hold zur Sonne wendet,
Ich wollte einstens Deinem Wesen gleichen,
In mir die Sonnenzukehr fromm erreichen,
Doch etwas sagte mir: Du bist verblendet!

Ich habe alle Blüthenkraft verschwendet,
Ich fühlte samend meinen Glanz
erbleichen,
Die Luft
den Duft von meiner Jugend streifen,
Und heute sind die Lust, die Macht verendet.

Doch seh ich Blumen tief aus sich erstrahlen,
An jedem Morgen sich zur Sonne neigen
Und fast mit Hingebung zum Lichte prahlen.

Ich aber mußte rasch herniedersteigen.
Verloren sind ja alle Sehnsuchtsqualm;
Mein Wesen wurde Niemandem zu eigen

10.4.16

FRIEDRICH HÖLDERLIN: HYPERIONS SCHICKSALSLIED




FRIEDRICH HÖLDERLIN


HYPERIONS SCHICKSALSLIED

Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, seelige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, athmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seeligen Augen
Bliken in stiller
Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.

8.4.16

RAINER MARIA RILKE: NÄCHTENS WILL ICH MIT DEM ENGEL REDEN




RAINER MARIA RILKE


NÄCHTENS WILL ICH MIT DEM ENGEL REDEN

Nächtens will ich mit dem Engel reden,
ob er meine Augen anerkennt.
Wenn er plötzlich fragte: Schaust du Eden?
Und ich müsste sagen: Eden brennt

Meinen Mund will ich zu ihm erheben,
hart wie einer, welcher nicht begehrt.
Und der Engel spräche: Ahnst du Leben?
Und ich müsste sagen: Leben zehrt

Wenn er jene Freude in mir fände,
die in seinem Geiste ewig wird, -
und er hübe sie in seine Hände,
und ich müsste sagen: Freude irrt.