21.10.11

FRIEDRICH RÜCKERT: WIEDERSEHEN


FRIEDRICH RÜCKERT (1788-1866)


WIEDERSEHEN

Deine Kinder, hier verloren,
Wirst du droben wiedersehn;
Denn was aus dir ist geboren,
Kann dir nicht verloren gehn.

Daß du einst sie wiedersehest,
Dieses kannst du wohl verstehn,
Wenn du auch nicht das verstehest,
Wie du sie wirst wiedersehn.

Nicht als Kinder; oder wolltest
Du sie ewig halten klein?
Nicht gealtert; oder solltest
Du entfremdet ihnen sein?

Die hier streitenden Gestalten,
Dort, wo sie verglichen sind,
Wo nicht Mann und Weib sich spalten,
Trennt sich auch nicht Greis und Kind.

11.10.11

RAINER MARIA RILKE: DIE LIEBENDEN


RAINER MARIA RILKE (1875-1926)


DIE LIEBENDEN


Sieh, wie sie zueinander erwachsen:
in ihren Adern wird alles Geist.
Ihre Gestalten beben wie Achsen,
um die es heiß und hinreißend kreist.

Dürstende, und sie bekommen zu trinken,
Wache und sieh: sie bekommen zu sehn.
Lass sie ineinander sinken,
um einander zu überstehn.

8.10.11

ERNST STADLER: IN DER FRÜHE


ERNST STADLER (1883-1914)


IN DER FRÜHE


Die Silhouette deines Leibs steht in der Frühe dunkel vor dem trüben Licht
Der zugehangnen Jalousien. Ich fühl, im Bette liegend, hostiengleich mir zugewendet dein Gesicht.
Da du aus meinen Armen dich gelöst, hat dein geflüstert »Ich muß fort« nur an die fernsten Tore meines Traums gereicht -
Nun seh ich, wie durch Schleier, deine Hand, wie sie mit leichtem Griff das weiße Hemd die Brüste niederstreicht...
Die Strümpfe... nun den Rock... das Haar gerafft... schon bist du fremd, für Tag und Welt geschmückt...
Ich öffne leis die Türe... küsse dich... du nickst, schon fern, ein Lebewohl... und bist entrückt.
Ich höre, schon im Bette wieder, wie dein sachter Schritt im Treppenhaus verklingt,
Bin wieder im Geruche deines Körpers eingesperrt, der aus den Kissen strömend warm in meine Sinne dringt.
Morgen wird heller. Vorhang bläht sich. Junger Wind und erste Sonne will herein.
Lärmen quillt auf... Musik der Frühe... sanft in Morgenträume eingesungen schlaf ich ein.

6.10.11

H[ANS] G[ÜNTHER] ADLER: HOCHZEIT


H[ANS] G[ÜNTHER] ADLER (1910-1988)


HOCHZEIT


Du bist geliebt in der Nacht, und das letzte Wort ist
Gesprochen, müde geweint des Herbstes Schwere
Und eingebrochen stumm ein sichtloser Umgang
Zu sicherem Schutz

In meinen Armen. Versichert bist du, ich hüte
Wissend dich einsam an mich geschmiegt in stiller
Gewalt und halte schweigend eng dich an meinen
Behütenden Leib.

Wie tröstlich wird es um uns in verdeckter Stube,
Wir sind gerettet. Ich rühre deine Lippen
Getrost, der Küsse Fluten, deiner Umarmung
Unendliche Lust

Erschüttert. Gib dich nun preis, wie ich dir mich gebe
Mit ganzem Herzen gesammelt, froh und ernst vor
Gestauter Freude! Nimm, genieße mein Herz nun
Und kühle die Glut

Uns beiden jetzt mit dem Duft, mit dem Tau, vermähle
Der Seelen Spiele zur Hochzeit! Lösch das Licht aus
Zur Nacht! Da wird ein Schutz in sichtlosem Umgang,
Vereinigt mit dir

In weiß erhobenem Glanz, da ein letztes Wort ist
Gesprochen, reif in des Herbstes Schwere tröstlich
Geweint, denn Gnade schenkt nun unsrer Umarmung
Unendliche Lust.

4.10.11

ALFRED LICHTENSTEIN: NACH DEM BALL

ALFRED LICHTENSTEIN (1889-1914)


NACH DEM BALL


Die Nacht kriecht in die Keller, muffig matt.
Glanzkleider torkeln durch der Straßen Schutt.
Gesichter sind verschimmelt und kaputt.
Kühl brennt der blaue Morgen auf der Stadt.

Wie bald Musik und Tanz und Gier zerrann ...
Es riecht nach Sonne. Und der Tag beginnt
Mit Schienenwagen, Pferden, Schrei und Wind.
Ein Mann streicht einen Herrenrumpf grau an.

Alltag und Arbeit staubt die Menschen ein.
Familien fressen stumm ihr Mittagsmahl.
Durch einen Schädel schwingt noch oft ein Saal,
Viel dumpfe Sehnsucht und ein Seidenbein.

3.10.11

GEORG TRAKL: AN DIE VERSTUMMTEN


GEORG TRAKL


AN DIE VERSTUMMTEN


O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend
  An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren,
  Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut;
  Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt.
  O, das versunkene Läuten der Abendglocken.
Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt.
  Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne des Besessenen,
  Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht.
  O, das gräßliche Lachen des Golds.
Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit,
  Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt.