31.1.12

BERTOLT BRECHT: DAS LIED VON DER UNZULÄNGLICHKEIT DES MENSCHLICHEN STREBENS


BERTOLT BRECHT


DAS LIED VON DER UNZULÄNGLICHKEIT DES MENSCHLICHEN STREBENS


Der Mensch lebt durch den Kopf
der Kopf reicht ihm nicht aus
versuch es nur; von deinem Kopf
lebt höchstens eine Laus.
Denn für dieses Leben
ist der Mensch nicht schlau genug
niemals merkt er eben
jeden Lug und Trug.

Ja; mach nur einen Plan
sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch´nen zweiten Plan
gehn tun sie beide nicht.
Denn für dieses Leben
ist der Mensch nicht schlecht genug:
doch sein höch´res Streben
ist ein schöner Zug.

Ja; renn nur nach dem Glück
doch renne nicht zu sehr!
Denn alle rennen nach dem Glück
Das Glück rennt hinterher.
Denn für dieses Leben
ist der Mensch nicht anspruchslos genug
drum ist all sein Streben
nur ein Selbstbetrug.

Der Mensch ist gar nicht gut
drum hau ihn auf den Hut
hast du ihn auf den Hut gehaut
dann wird er vielleicht gut.
Denn für dieses Leben
ist der Mensch nicht gut genug
darum haut ihn eben
ruhig auf den Hut.

29.1.12

WALTER HASENCLEVER: BEGEGNUNG


WALTER HASENCLEVER


BEGEGNUNG


Sag aus meer- und wolkenhaftem Munde,
Schon verirrt in deines Bettes Nacht,
Wo du mit dem andern schliefst im Bunde:
Welche Stunde bist du aufgewacht?

Wann begannen dunkel dir zu tönen
Uhr und Glas auf deines Tisches Rand;
Wann erhobst du dich aus dumpfem Stöhnen,
Schauernd unter einer fremden Hand?

In derselben ängstlichen Sekunde
Schloß mir jene auf ihr Gartentor,
Wo ich stand verloren in der Runde
Schwarzer Bäume und dem Sternenchor.

Plötzlich allen nächtlichen Verbannten
War ich nahe in der gleichen Zeit -
Und da fühlt ich, daß wir uns erkannten
Tief in Treue aus der Wirklichkeit.

10.1.12

WOLFGANG WEYRAUCH: DER FUSGÄNGER


WOLFGANG WEYRAUCH (1904-1980)


DER FUSGÄNGER


ich bin ein Vertreter
vertrete alles
auf die Ware kommt es nicht an
entweder hats kaum jemand
dann sind Sie eine moderne Hausfrau
oder viele habens
dann gehn Sie mit der Zeit

ich bin ein Meinungsforscher
wir machen einen Querschnitt
aber der Querschnitt
ist unser Querschnitt
objektiv ist keiner
wie man sich bettet
so liegt die Zukunft

ich bin eine Handleserin
die Linien sind
wie sie sind
aber die Linien sind die Zukunft
gefällt mir der Kunde
wirds ihm gut gehen
aber nicht ganz
ganz fällt auf

ich bin ein Bettler
schluck die Krümel
damit sich die oben nicht verschlucken
zuviel ist ungesund
die unten dürfen teilnehmen
Gnade ist freiwillig
kostet nichts

ich bin ein Kind
alle schubsen mich
bald bin ich kein Kind mehr
dann schubs ich

ich bin eine Schülerin
meine Lehrer tun mir leid
meine fast vergessenen Liebhaber
gibst Du mir eine 1

ich bin eine Clofrau
bin dabei
wenn alle gleich sind
alle gleich winzig
Groschen und Schlitz
Geschäft und Rolle
alle sind abhängig von mir

ich bin ein Geheimdienstler
bin für die Sicherheit eingesetzt
die Sicherheit der wenigen
ist wichtiger als die der vielen

ich bin ein Libero
habs in den Beinen
mein Kopf ist eine taube Nuss
aber letzten Samstag wurde ich gescheit
ich machte einen falschen Tritt
altre ich

ich bin eine Hausfrau
nehm die Eier
schlagt das Eigelb mit dem Schneebesen
schlagts zu einer cremeartigen Masse
schlagt das Eiweiss zu steifem Schnee
der Schnitt mit dem Messer muß zu sehn sein
bald ist die Torte fertig
so ißt mein Mann sie gern

8.1.12

ERNST BLASS: ARRANGEMENT


ERNST BLASS


ARRANGEMENT


Ein blauer Abendhimmel, stilisiert.
Singvögel, die teils fleuchen und teils kreuchen.
Es tanzen mehrmals komisch an zuviert
Schutzmannskordone mit geschwollnen Bäuchen.

Ein Cyrano, teils sehnend und teils sehnig,
Schlägt wundervoll heroische Kapritzen.
Es steigt aus den geschärften Häuserspitzen
Der Mond, ein pittoresker Kegelkönig.

7.1.12

WALTER HASENCLEVER: DIE ROTE LATERNE


WALTER HASENCLEVER


DIE ROTE LATERNE


Auf einmal wird es menschenleer,
Als blieb die Straße stehn
Im Dunkeln, und man hört nichts mehr
Als immer nur sein eignes Gehn.

Aus dieser abgeschiedenen Welt
Hebt sich in grauem Ton ein Haus.
Halb offen ist das Tor, es fällt
Ein matter Glanz aus ihm heraus.

Und nur der Glanz - sonst tot und leer.
Wie eigentümlich diese Angst,
Mit der Du plötzlich immer mehr
Herein und nach der Klinke langst.

Wie eigentümlich dieser Mut,
Mit dem Du nun an nichts mehr denkst,
Auf einmal drin bist und den Hut
An irgend einen Nagel hängst.