31.12.15

MICHAEL KRÜGER: SCHNEE




MICHAEL KRÜGER


SCHNEE

Es riecht nach Schnee,
ein Geruch, der ohne Beschreibung auskommt,
ohne große Worte der Bewunderung.
Über den See zucken letzte Wellen,
bleistiftdünn, bis sie das Eis
ausdruckt in regelmäßigen Versen.

Wir leben in guten Verhältnissen,
lesen die Zeitung, schauen fern,
sehen zu, wie Hamlet zweifelt,
lieben Mörike und Schuberts Impromptus,
auch die Armut läßt uns nicht kalt,
in der Nähe nicht und nicht in der Ferne.

Unser Nachbar wußte alles über Sanskrit,
jetzt hat er sich das Leben genommen,
weil seine Frau ihn verließ. Eben noch
sahen wir ihn im Garten bei den Amseln,
krumm wie ein Fragezeichen, die Vögel
wie hüpfende Punkte um ihn herum.

Wir leben länger als gedacht.
Wir unterscheiden die richtigen Begriffe
von den falschen. Wir lieben den Schnee,
wenn die Wege aussehen wie die Ränder
von Traueranzeigen. Großspurig
läuft der Tod dem Leben davon,

schon ist er im Weiß verschwunden.

30.12.15

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: GEGENWART





JOHANN WOLFGANG VON GOETHE


GEGENWART

Alles kündet dich an!
Erscheinet die herrliche Sonne,
Folgst du, so hoff ich es, bald.

Trittst du im Garten hervor,
So bist du die Rose der Rosen,
Lilie der Lilien zugleich.

Wenn du im Tanze dich regst,
So regen sich alle Gestirne
Mit dir und um dich umher.

Nacht! und so wär es denn Nacht!
Nun überscheinst du des Mondes
Lieblichen, ladenden Glanz.

Ladend und lieblich bist du,
Und Blumen, Mond und Gestirne
Huldigen, Sonne, nur dir.

Sonne! so sei du auch mir
Die Schöpferin herrlicher Tage;
Leben und Ewigkeit ists.

25.12.15

JOHANNES R. BECHER: WEIHNACHT





JOHANNES R. BECHER (1891-1958) 


WEIHNACHT

Es blüht der Winter im Geäst,
und weiße Schleier fallen.
Einsam erfriert ein Vogelnest.
Wie vormals läßt das Weihnachtsfest
die Glocken widerhallen.

Es neigt sich über uns der Raum,
darin auch wir uns neigen.
Es glänzt der Kindheit Sternentraum.
Ein neuer Stern blinkt hoch am Baum
und winkt aus allen Zweigen.

6.9.15

CLAIRE GOLL: WÄHREND WIR EINSCHLAFEN




CLAIRE GOLL


WÄHREND WIR EINSCHLAFEN

Während wir einschlafen wird Frühling:
Blüht Goldlack aus deinen Augen,
Versucht ein Vogel sein Nachtgebet:
Ich möchte noch schluchzen,
Aber ich schlafe schon.

Es ist warm wie in Italien in deinem Arm.
Deine Augen sind Datteln, braun und süss,
Und dein Mund schmeckt noch östlicher
Nach Feigen von Smyrna.
In rosa Lorbeerhainen
Geht der neue Orpheus spazieren
Mit seinem Dackel.

Von deinem Traum zu meinem
Führen Palmenalleen;
Denn wir träumen ein und denselben Traum,
Ein und dasselbe Leben,
Ein und denselben Tod

5.7.15

PAUL CELAN: SPRICH AUCH DU




PAUL CELAN


SPRICH AUCH DU

Sprich auch du,
sprich als letzter,
sag deinen Spruch.

Sprich –
Doch scheide das Nein nicht vom Ja.
Gib d
einem Spruch auch den Sinn:
gib ihm den Schatten.

Gib ihm Schatten genug,
gib ihm so viel,
als du um dich verteilt weißt zwischen
Mittnacht und Mittag und Mittnacht.

Blicke umher:
sieh, wie’s lebendig wird rings –
Beim Tode! Lebendig!
Wahr spricht, wer Schatten spricht.

Nun aber schrumpft der Ort, wo du stehst:
Wohin jetzt, Schattenentblößter, wohin?
Steige. Taste empor.
Dünner wirst du, unkenntlicher, feiner!
Feiner: ein Faden,
an dem er herabwill, der Stern:
um unten zu schwimmen, unten,
wo er sich schimmern sieht: in der Dünung
wandernder Worte.

4.7.15

RAINER MARIA RILKE: ZU SOLCHEN STUNDEN GEHN WIR ALSO HIN




RAINER MARIA RILKE


ZU SOLCHEN STUNDEN GEHN WIR ALSO HIN

Zu solchen Stunden gehn wir also hin
und gehen jahrelang zu solchen Stunden,
auf einmal ist ein Horchender gefunden –
und alle Worte haben Sinn.

Dann kommt das Schweigen, das wir lang erwarten,
kommt wie die Nacht, von großen Sternen breit :
zwei Menschen wachsen wie im selben Garten,
und dieser Garten ist nicht in der Zeit.

Und wenn die beiden gleich darauf sich trennen,
beim ersten Wort ist jeder schon allein.
Sie werden lächeln und sich kaum erkennen,
aber sie werden beide größer sein…

7.6.15

GOTTFRIED BENN: VERSE




GOTTFRIED BENN


VERSE

Wenn je die Gottheit, tief und unerkenntlich,
in einem Wesen auferstand und sprach,
so sind es Verse, da unendlich
in ihnen sich die Qual der Herzen brach;
die Herzen treiben längst im Strom der Weite,
die Strophe aber streift von Mund zu Mund,
sie übersteht die Völkerstreite
und überdauert Macht und Mörderbund.

Auch Lieder, die ein kleiner Stamm gesungen,
Indianer, Yakis mit Aztekenwort,
längst von der Gier des weißen Manns bezwungen,
leben als stille Ackerstrophen fort:
“komm, Kindlein, komm im Schmuck der Siebenähren,
komm, Kindlein, komm in Kett’ und Yadestein,
der Maisgott stellt ins Feld, uns zu ernähren,
den Rasselstab und du sollst Opfer sein -”

Das große Murmeln dem, der seine Fahrten
versenkt und angejocht dem Geiste lieh,
Einhauche, Aushauch, Weghauch – Atemarten
indischer Büssungen und Fakirie -,
das große Selbst, der Alltraum, einem Jeden
ins Herz gegeben, der sich schweigend weiht,
hält sich in Psalmen und in Veden
und spottet alles Tuns und trotz der Zeit.

Zwei Welten stehn im Spiel und Widerstreben,
allein der Mensch ist nieder, wenn er schwankt,
er kann vom Augenblick nicht leben,
obschon er sich dem Augenblicke dankt;
die Macht vergeht im Abschaum ihrer Tücken,
indes ein Vers der Völker Träume baut,
die sie der Niedrigkeit entrücken,
Unsterblichkeit im Worte und im Laut.