21.9.14

HANS MAGNUS ENZENSBERGER: PRIVILEGIERTE TATBESTÄNDE




HANS MAGNUS ENZENSBERGER


PRIVILEGIERTE TATBESTÄNDE

Es ist verboten, Personen in Brand zu stecken.
Es ist verboten, Personen in Brand zu stecken, die im Besitz
einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung sind.
Es ist verboten, Personen in Brand zu stecken, die sich an
die gesetzlichen Bestimmungen halten und im Besitz
einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung sind.
Es ist verboten, Personen in Brand zu stecken, von denen
nicht zu erwarten ist, daß sie den Bestand und die
Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden.
Es ist verboten, Personen in Brand zu stecken, soweit sie
nicht durch ihr Verhalten dazu Anlaß geben.
Es ist insbesondere auch Jugendlichen, die angesichts
mangelnder Freizeitangebote und in Unkenntnis der
einschlägigen Bestimmungen sowie aufgrund von
Orientierungsschwierigkeiten psychisch gefährdet sind,
nicht gestattet, Personen ohne Ansehen der Person in
Brand zu stecken.
Es ist mit Rücksicht auf das Ansehen der Bundesrepublik
Deutschland im Ausland dringend davon abzuraten.
Es gehört sich nicht.
Es ist nicht üblich.
Es sollte nicht zur Regel werden.
Es muß nicht sein.
Niemand ist dazu verpflichtet.
Es darf niemendem zum Vorwurf gemacht werden, wenn
er es unterläßt, Personen in Brand zu stecken.
Jedermann genießt ein Grundrecht auf Verweigerung.
Entsprechende Anträge sind an das zuständige
Ordnungsamt zu richten.


Nota bene. Wer diesen Text in eine andere Sprache übertragt. wird gebeten, an Stelle der Bundesrepublik Deutschland versuchweise die offizielle Bezeichnung seines eigenen Landes einzusetzen. Diese Fußnote sollte auch in der Übersetzung stehenbleiben.

20.9.14

GÜNTER EICH: ABENDS AM ZAUN




GÜNTER EICH


ABENDS AM ZAUN

Am Abend duftet holder die Kamille
vom Feldrain her. Der Posten bläst ein Lied
auf seiner Okarina. Gottes Wille
im Glanz des Abendsternes sich vollzieht.
Wie viele doch sind nun für immer stille,
Wie gerne sich erfreut an Stern und Lied!
Nun sind sie selbst darin und Gottes Wille
in Glanz und Duft und solcher Abendstille
geschieht.

19.9.14

REINER KUNZE: VLADIMIR HOROWITZ SPIELT IN WIEN ZUM LETZTEN MAL MOZART




REINER KUNZE


VLADIMIR HOROWITZ SPIELT IN WIEN ZUM LETZTEN MAL MOZART

Er war ihm näher schon als uns
und war gekommen, ihm zurückzugeben,
was er von ihm geliehn fürs leben,
und spielte es hinüber in die stille ihm
mit einem fingerschweben

Bis uns die handgelenke schmerzten
warfen wir am ende ihm
vom diesseits zu

18.9.14

RAINER MARIA RILKE: MUSIK



RAINER MARIA RILKE


MUSIK

Wüsste ich für wen ich spiele, ach!
immer könnt ich rauschen wie der Bach.
Ahnte ich, ob tote Kinder gern
tönen hören meinen innern Stern;
ob die Mädchen, die vergangen sind,
lauschend wehn um mich im Abendwind.
Ob ich einem, welcher zornig war,
leise streife durch das Totenhaar...
Denn was wär Musik, wenn sie nicht ging
weit hinüber über jedes Ding.
Sie, gewiss, die weht, sie weß es nicht,
wo uns die Verwandlung unterbricht.
Dass uns Freunde hören, ist wohl gut -,
aber sie sind nicht so ausgeruht
wie die Andern, die man nicht mehr sieht:
tiefer fühlen sie ein Lebens-Lied,
weil sie wehen unter dem, was weht,
und vergehen, wenn der Ton vergeht.