29.3.15

YVAN GOLL: DIE MAGISCHEN KREISE




YVAN GOLL


DIE MAGISCHEN KREISE

Gefangen im Kreise meines Gestirns
Mich drehend mit dem Rad das sich in meinem Herzen dreht
Und dem Mühlstein des Weltalls der das Korn der Zeit mahlt

Gefangen im Kreis des Widders
Dessen Horn die geheime Stimme verbirgt
Vernehmbar und niemals vernommen

Wie denn entrinnen dem tönenden Gong dem Quarz der Nächte
Wie entrinnen der Arena in der der Stier
Sich mit seinem Schatten trifft

Rien ne va plus: Croupier des Zodiaks
Oder Derwisch der die Gebetmühle dreht
In dein blaues Aug Lilith wie durch einen azurnen Reif
Wage ich den Todessprung

Und steige hinab zum Scharnier deines Blutes
Ich steige hinab der Jahrhunderte endlose Treppe
Oder steig ich hinauf auf die Leiter des Spieles
Die von Engelsflügeln umgeben ist?

Ich baute einen Turm
Das vertikale I Denkmal aus Sand des Ichs
Schneller verwelkt als Rohr
Ich baute die Pyramide um in ihr die Mumie eines Insekts zu begraben

Ich bewohnte das Sechseck aus Schnee das Pentagramm der Anemone
Ich berechnete das Viereck des Würfels
Die Festung um den Engel zu gewinnen
In einem Schlaf aus Elfenbein einem Schlaf ohne Lider

Wehe der Dämon meines Würfels
Durchbohrt mich mit seinen zweiundzwanzig schwarzen Augen
Vogelaugen Schlagenaugen Augen von Frauen
Verwickeln mich in neue Kreise
Kreise von Geiern drehen sich über meinem Leben
Spiralen von Spirillen ziehen die 6 meines Todes
Aller Feuer Augen öffnen sich schließen sich

Tief in mir sehr fern summt leise der alte Mann:
„Wer ist dieser goldene Drache der in den Lüften fliegt
Und den Strauß der Kometen nicht verrückt?

Wer ist dieser Adler der seine Eier brütet
In den vom Blitz gefällten Baum
Und dessen Junge vom Neumond trinken?

Wer ist diese Gestalt die am Rand des Rades läuft
Den Berg erklimmt und hinabstürzt
In die Tiefe ihres Grabes?“

Weder sie noch ich erwarten die Antwort
Der Wind des Sternengewölbes zerstört mein Gedächtnis
Alle abgenutzten Schlüssel versuch ich um den Kreis aufzubrechen

Wie Anker senke ich die Buchstaben des Alphabets
In das Vergessen ich pflanze die Wurzeln der Worte
In die Furchen meiner Stirn

Ich züchte den magischen Rosenhain
Die Windrose die Rose des Sandes
Und wenn ich den Engelssprung in den Spiegel wage

Rinnend tausend neue Kreise zum Rande der Welt
Wer aber ist diese Göttin gepaart mit den Armreifen des Saturn
Was für eine Kraft ist’s die die Ellipsen peitscht?

28.3.15

ELISABETH BORCHERS: VERGESSENER GEBURTSTAG




ELISABETH BORCHERS


VERGESSENER GEBURTSTAG

Wer hat auf meinem Stuhl gesessen
Wer hat von meinem Teller gegessen

Wer hat in meinem Bett gelegen
Wer hat's mir nicht zurückgegeben

Wer hat mich in alle Winde zerstreut
Wen hat zutiefst das Gedächtnis gereut

Wer hat mich um deinen Tag gebracht
Wer hat sich selber Platz gemacht
Die Zeit war's, die Zeit

27.3.15

REINER KUNZE: DER HIMMEL VON JERUSALEM




REINER KUNZE


DER HIMMEL VON JERUSALEM

Mittags, schlag zwölf, hoben die moscheen
aus steinernen Hälsen zu rufen an,
und die kirchtürme fielen ins wort
mit schwerem geläut

Die synagoge, schien’s, zog ihren schwarzen mantel
enger, das wort
nach innen genäht

26.3.15

ELSE LASKER-SCHÜLER: EIN ALTER TIBETTEPPICH




ELSE LASKER-SCHÜLER


EIN ALTER TIBETTEPPICH

Deine Seele, die die meine liebet,
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.
Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.
Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit,
Maschentausendabertausendweit.
Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron,
Wie lange küßt dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon?

25.3.15

ROSE AUSLÄNDER: NOCH BIST DU DA




ROSE AUSLÄNDER


NOCH BIST DU DA

Wirf deine Angst
in die Luft

Bald
ist deine Zeit um
bald wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends

Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da

Sei was du bist
Gib was du hast

22.3.15

ALFRED LICHTENSTEIN: ABSCHIED




ALFRED LICHTENSTEIN


ABSCHIED

Wohl war ganz schön, ein Jahr Soldat zu sein.
Doch schöner ist, sich wieder frei zu fühlen.
Es gab genug Verkommenheit und Pein
In diesen unbarmherzgen Menschenmühlen.

Sergeanten, Bretterwände, lebet wohl.
Lebt wohl, Kantinen, Marschkolonnenlieder.
Leichtherzig las zich Stadt und Kapitol.
Der Kuno geht, der Kuno kommt nicht wieder.

Nun, Schicksal, treib mich, wohin der gefällt.
Ich zerre nicht an meiner Zukünft Hüllen.
Ich hebe meine Augen in die Weit.
Ein Wind fängt an. Lokomotiven brüllen.

12.3.15

JOHANNES R. BECHER: ABSCHIED




JOHANNES R. BECHER (1891-1958)


ABSCHIED

Noch könnt ihr Hunde, Katzen, Vögel halten!
Stellt euch den Frühling auf das Fensterbrett!

Lebt wohl! Wer würde gern den Zug versäumen,
Der pünktlich in das Ungewisse geht.
Es weiß kein Ding mehr vor dem großen Räumen,
Wie lang es noch an seinem Platze steht.

Ein Traum zurück? Nur kurz währt ein Vergessen.
Die aufgeschreckten Zeiten sind genaht.
Die Weltenreiche werden neu vermessen,
Und in den Völkern geistert der Verrat.

7.3.15

HILDE DOMIN: WIR NEHMEN ABSCHIED




HILDE DOMIN


WIR NEHMEN ABSCHIED

Wir nehmen Abschied
freiwillig.
Was wir lieben bleibt
puppengross
auf einem Streifen Zement
als könnten wir
die Puppe
so wiederfinden.

Wir behalten das
Heimweh nach dem Abschied
lange
nach der Rückkehr.