28.4.14

PETER HANDKE: LIED VOM KINDSEIN




PETER HANDKE


LIED VOM KINDSEIN

Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte der Bach sei ein Fluß,
der Fluß sei ein Strom,
und diese Pfütze das Meer.

Als das Kind Kind war,
wußte es nicht, daß es Kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins.

Als das Kind Kind war,
hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnheit,
saß oft im Schneidersitz,
lief aus dem Stand,
hatte einen Wirbel im Haar
und machte kein Gesicht beim fotografieren.

Als das Kind Kind war,
war es die Zeit der folgenden Fragen:
Warum bin ich ich und warum nicht du?
Warum bin ich hier und warum nicht dort?
Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?
Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?
Ist was ich sehe und höre und rieche
nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt?
Gibt es tatsächlich das Böse und Leute,
die wirklich die Bösen sind?
Wie kann es sein, daß ich, der ich bin,
bevor ich wurde, nicht war,
und daß einmal ich, der ich bin,
nicht mehr der ich bin, sein werde?

Als das Kind Kind war,
würgte es am Spinat, an den Erbsen, am Milchreis,
und am gedünsteten Blumenkohl.
und ißt jetzt das alles und nicht nur zur Not.

Als das Kind Kind war,
erwachte es einmal in einem fremden Bett
und jetzt immer wieder,
erschienen ihm viele Menschen schön
und jetzt nur noch im Glücksfall,
stellte es sich klar ein Paradies vor
und kann es jetzt höchstens ahnen,
konnte es sich Nichts nicht denken
und schaudert heute davor.

Als das Kind Kind war,
spielte es mit Begeisterung
und jetzt, so ganz bei der Sache wie damals, nur noch,
wenn diese Sache seine Arbeit ist.

Als das Kind Kind war,
genügten ihm als Nahrung Apfel, Brot,
und so ist es immer noch.

Als das Kind Kind war,
fielen ihm die Beeren wie nur Beeren in die Hand
und jetzt immer noch,
machten ihm die frischen Walnüsse eine rauhe Zunge
und jetzt immer noch,
hatte es auf jedem Berg
die Sehnsucht nach dem immer höheren Berg,
und in jeder Stadt
die Sehnsucht nach der noch größeren Stadt,
und das ist immer noch so,
griff im Wipfel eines Baums nach dem Kirschen in einemHochgefühl
wie auch heute noch,
eine Scheu vor jedem Fremden
und hat sie immer noch,
wartete es auf den ersten Schnee,
und wartet so immer noch.

Als das Kind Kind war,
warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum,
und sie zittert da heute noch.

UWE KOLBE: NIRGENDWO MEHR HIN



UWE KOLBE (1957)


NIRGENDWO MEHR HIN

Werden auf der Brücke bleiben,
eines in des andern Armen,
küssen sich, weit offne Augen
werden in den Mond sehn.

Haben Vater, Mutter wohl,
haben sie vergessen.
Sind so jung und schon so schwer,
wenn sie sich im Kreis drehn.

Werden Himmeln und Laternen
Liebe und den Ausbruch schwören.
Doch die Lichter, Straßen bleiben
stumm, es wird nur Wind wehn.

Werden von der Brücke nicht mehr,
nicht für Eltern, für die Katz,
nur noch sich und sich gehören,
nirgendwo mehr hin gehn.

27.4.14

THOMAS BERNHARD: HINTER DEN BÄUMEN IST EINE ANDERE WELT




THOMAS BERNHARD (1931-1989)


HINTER DEN BÄUMEN IST EINE ANDERE WELT

Hinter den Bäumen ist eine andere Welt,
der Fluß bringt mir die Klagen,
der Fluß bringt mir die Träume,
der Fluß schweigt wenn ich am Abend in den Wäldern
vom Norden träume...

Hinter den Bäumen ist eine andere Welt,
die mein Vater vertauscht hat für zwei Vogel,
die meine Mutter heimtrug in einem Korb,
die mein Bruder im Schlaf verlor, als er sieben Jahre alt war und müde…

Hinter den Bäumen ist eine andere Welt,
ein Gras, das nach Trauer schmeckt, eine schwarze Sonne,
ein Mond der Toten,
eine Nachtigall, die nicht aufhört zu klagen
von Brot und Wein
und Milch in großen Krügen
in der Nacht der Gefangenen.

Hinter den Bäumen ist eine andere Welt,
sie gehen in langen Furchen hinunter
in die Dörfer, in die Wälder der Jahrtausende,
morgen fragen sich nach mir,
nach der Musik meiner Gebrechen,
wenn der Weizen fault, wenn nichts von gestern
geblieben ist, von ihren Zimmern, Sakristeien und Wartesälen.

Ich will sie verlassen. Mit keinem
will ich mehr sprechen
sie haben mich verraten, der Acker weiß es, die Sonne
wird mich verteidigen, ich weiß,
ich bin zu spät gekommen...

Hinter den Bäumen ist eine andere Welt,
dort ist ein anderer Kirtag,
im Kessel der Bauern schwimmen die Toten und um die Tümpel
schmilzt leise der Speck von den roten Skeletten,
dort träumt keine Seele mehr von Mühlrad,
und der Wind versteht
nur den Wind...

Hinter den Bäumen ist eine andere Welt,
das Land der Fäulnis, das Land
der Händler,
eine Landschaft der Gräber laß hinter dir
und du wirst vernichten, grausam schlafen
und trinken und schlafen
von Morgen zum Abend, vom Abend zum Morgen
und nicht mehr verstehn, nicht den Fluß und nicht die Trauer;
denn hinter den Bäumen
        morgen,
und hinter den Hügeln,
        morgen,
ist eine andere Welt.

26.4.14

RAINER MARIA RILKE: HERBSTTAG


RAINER MARIA RILKE


HERBSTTAG

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

21.9.1902, Paris

21.4.14

GÜNTER EICH: ENTWICKLUNG




GÜNTER EICH


ENTWICKLUNG

Verzögerungen erfinden,
Relais einbauen
Umwege, Aufenthalte, Wartesäle

Kann, soll und muß,
und kreuzungsfrei,
im Hundert, vom Hundert, auf Hundert.

Und schließlich einsilbig,
Buchstaben, Interjektionen
zusammenschrumpfend,

Hinweise auf Wörterbücher,
Journale, der Vorzug
von Sprachfehlern.

20.4.14

RAINER MARIA RILKE: RÖMISCHE FONTANE (VILLA BORGHESE)




RAINER MARIA RILKE


RÖMISCHE FONTANE
(VILLA BORGHESE)

Zwei Becken, eins das andere übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand,

dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
wie einen unbekannten Gegenstand;

sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal träumerisch und tropfenweis

sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.


19.4.14

PAUL CELAN: ES WAR ERDE IN IHNEN




PAUL CELAN


[ES WAS ERDE IN IHNEN]

ES WAR ERDE IN IHNEN, und
sie gruben.
Sie gruben und gruben, so ging
ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott,
der, so hörten sie, alles dies wollte,
der, so hörten sie, alles dies wusste.
Sie gruben und hörten nichts mehr;
sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied,
erdachten sich keinerlei Sprache.
Sie gruben.
Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm,
es kamen die Meere alle.
Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm,
und das Singende dort sagt: sie graben.
O einer, o keiner, o niemand, o du:
Wohin gings, da’s nirgendhin ging?
O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu,
und am Finger erwacht uns der Ring.

ERICH FRIED: VERLORENE SICHERHEIT




ERICH FRIED


VERLORENE SICHERHEIT

Mein Tod ist krank
Er klagt sooft ich ihn sehe
dass er sich klapprig und schwach
und halbtot fühlt
Wie kann ich ihm helfen?

An wem soll ich sterben
wenn ihm den ich lange schon kenne
wenn meinem zarten leidenden
schmächtigen Tod etwas zustößt?

18.4.14

GÜNTER EICH: ENDE EINES SOMMERS




GÜNTER EICH


ENDE EINES SOMMERS

Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!

Wie gut, daß sie am Sterben teilhaben!

16.4.14

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: SEHNSUCHT




JOHANN WOLFGANG VON GOETHE


SEHNSUCHT

Nur wer die Sehnsucht kennt
Weiß, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh ich ans Firmament
Nach jener Seite.

Ach! der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwindelt mir, es brennt
Mein Eingeweide.
Nur wer die Sehnsucht kennt
Weiß, was ich leide!