10.4.12

ERNST BLASS: KREUZBERG





ERNST BLASS


KREUZBERG 1

Blaßmond hat Hall und Dinge grau geschminkt.
Das Wundern lernte selbst der karge Greis,
Der unten, auf der Bank, im engsten Kreis
Vor sich den mageren Spazierstock schwingt.

Da liegt die große Stadt: schwer, grau und weiß,
Ein Rauchen, Greifen, Atmen, daß es stinkt.
Eh sie dem heil'gen Tag das Dunkle wild entringt,
Erwachen Nerventräume, blaß und heiß.

Fort mit dem süßen Blick! Fort mit dem Kusse!
Hörst du die roten Nacht- und Not- Alarme?
Die heißen, blassen Träume sind verstreut.

Mir stehen riesige, liebes-, hasseswarme
Gebäude zu durchwandern weit bereit.
Da unten rollen meine Autobusse!  



KREUZBERG 2

Wir schleifen auf den müdgewordnen Beinen
Die Trägheit und die Last verschlafner Gierden.
Uns welkten (ach so schnell!) die bunten Zierden.
Durch Dunkliges kriecht geil Laternenscheinen.

Im Trüben hat ein träger Hund gebollen.
Auf Bänken übertastet man die Leiber
Zum Teile gar nicht unsympathscher Weiber.
Die schaukeln noch - wir wissen, was wir wollen.

Du gähnst mich an - in deinem Gähnen sielt
Sich halbverfaulte Geilheit. Hundgebelle.
Und durch das überlaubte Dings da schielt,
In Stein gemetzt, der Bürgermeister Zelle.

9.4.12

GÜNTER GRASS: WAS GESAGT WERDEN MUSS



GÜNTER GRASS


WAS GESAGT WERDEN MUSS

Warum schweige ich, verschweige zu lange,
was offensichtlich ist und in Planspielen
geübt wurde, an deren Ende als Überlebende
wir allenfalls Fußnoten sind.

Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,
der das von einem Maulhelden unterjochte
und zum organisierten Jubel gelenkte
iranische Volk auslöschen könnte,
weil in dessen Machtbereich der Bau
einer Atombombe vermutet wird.

Doch warum untersage ich mir,
jenes andere Land beim Namen zu nennen,
in dem seit Jahren - wenn auch geheimgehalten -
ein wachsend nukleares Potential verfügbar
aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung
zugänglich ist?

Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,
dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,
empfinde ich als belastende Lüge
und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,
sobald er mißachtet wird;
das Verdikt "Antisemitismus" ist geläufig.

Jetzt aber, weil aus meinem Land,
das von ureigenen Verbrechen,
die ohne Vergleich sind,
Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,
wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch
mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,
ein weiteres U-Boot nach Israel
geliefert werden soll, dessen Spezialität
darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe
dorthin lenken zu können, wo die Existenz
einer einzigen Atombombe unbewiesen ist,
doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,
sage ich, was gesagt werden muß.

Warum aber schwieg ich bislang?
Weil ich meinte, meine Herkunft,
die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,
verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit
dem Land Israel, dem ich verbunden bin
und bleiben will, zuzumuten.

Warum sage ich jetzt erst,
gealtert und mit letzter Tinte:
Die Atommacht Israel gefährdet
den ohnehin brüchigen Weltfrieden?
Weil gesagt werden muß,
was schon morgen zu spät sein könnte;
auch weil wir - als Deutsche belastet genug -
Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,
das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld
durch keine der üblichen Ausreden
zu tilgen wäre.

Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,
weil ich der Heuchelei des Westens
überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,
es mögen sich viele vom Schweigen befreien,
den Verursacher der erkennbaren Gefahr
zum Verzicht auf Gewalt auffordern und
gleichfalls darauf bestehen,
daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle
des israelischen atomaren Potentials
und der iranischen Atomanlagen
durch eine internationale Instanz
von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.

Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,
mehr noch, allen Menschen, die in dieser
vom Wahn okkupierten Region
dicht bei dicht verfeindet leben
und letztlich auch uns zu helfen.

8.4.12

WALTER HASENCLEVER: DER GEFANGENE






DER GEFANGENE

Keiner, der durch Vorstadt kreisend zieht,
Weiß, wen er liebt, an welches Weib er denkt.
Manchmal in Caféhaus- Walzerlied
Geschieht ein Blick, der ihn beglückt und kränkt.
Aufschäumt der schönen Jugend Melodie,
Gesicht und Ruhm und erstes Zeitungswort;
Schwarzer Fluß mit schmerzlicher Magie
Erscheint im Westen an dem alten Ort.
Dort lebt ein Herz, das, vielen zugesellt,
Sich tiefer senkte auf des Schicksals Grund;
Ein Herz mit ungeheurer Flamme: Welt -
Das jetzt trübe steigt in unsern Mund.
Noch sind Lokale mitternacht-erfüllt,
Geheul von Bürgern, die wir langsam töten.
Wird sich die ewige Stadt dem Antlitz röten?
Entschreiten wir der Ebene unverhüllt!
Schon aus beklommenem Hirn im Nebelschein
Glüht unterirdisch dumpfer Züge Fliehn.
Da stürzt der Kreisel in die Sinne ein,
Morgen steht - der Morgen über Berlin.
Ihr alle in Gefahr und Liebesgraun:
Wir wollen nach den weißen Pferden schaun.
Es schließt der Kreis sich um Gespenst und Jahr;
Lustfrohe Zeit, auch du, wie wunderbar.
Der süßen Gegenwart entrückter Sinn
Erhebt sich östlich zu der Lichtstadt hin,
Die riesenhaft in singender Gestalt
Am körperlosen Äther dir erschallt.
Die Droschke stolpert, wo wir oft gekniet
Vor einer Dame, welche unbekannt,
Bis ihre Strümpfe, die man plötzlich sieht,
Die unbequeme Lust zerriß und fand.
Als wir müde auf den Korridor
Hintraten, aufgeweckt, ins Schlummerland:
Welch ein Gedanke, wenn am fremden Tor
Noch eine kleine Lampe einsam stand.
Die Jalousie strömt fort in blauem Glanz;
Durch spitze Flächen ins Gehirn läuft Tanz.
Die Transparente über Wolk und Stern
Sind längst vergangen...ja, auch Du bist fern.
Bald stirbt die Nacht am rosa Firmament,
Schon nahen Vögel, die nach Süden ziehn;
Wo bist du, Volk, das meinen Namen nennt?
Die Wolke flammt - der Morgen über Berlin.