7.2.14

WOLF BIERMANN: MELANCHOLIE






WOLF BIERMANN


MELANCHOLIE

1
weil ich kein land mehr seh in keinem land
auf all dem industriemist kräht kein hahn
die menschlein taumeln über jeden rand
zu arm, zu reich, zu klein im größenwahn
weil wünsche wuchern wie ein krebsgeschwür
bin ich ein nimmerfroher nimmersatt
weil todesangst sich spreizt als lebensgier
weil grenzenlose freiheit grenzen hat
und weil ich meinen feinden nie nichts verzieh
und weil ich selber seh und doch nichts schnalle

melancholie
melancholie im herzen
die schwarze galle

2
weil feigheit vor dem wahren freund mich lähmt
weil kühnheit vor dem falschen feind mich foppt
weil man mit tränen kein' tyrannen zähmt
und weil kein lied die amokläufer stoppt
weil ich am ruhm vorn an der rampe roch
und leckte mich so durstig an dem salz
weil zweifel mir in die gewissheit kroch
und habe schulden schuldlos auf dem hals
weil ich widerstand und ging doch in die knie
und krieg kein seelengeld mehr auf die kralle

melancholie
melancholie im herzen
die schwarze galle

3
wer hoffnung predigt, tja, der lügt. doch wer
die hoffnung tötet, ist ein schweinehund
und ich mach beides und schrei: bitte sehr
nehmt was ihr braucht - zu viel ist ungesund!
weil grundlos alles hoffen ist, genau
wie auch die liebe keine gründe braucht
und weil ich träume in die pfanne hau
weil nur von ketzerei der schornstein raucht
und weil'n ketzer brennt und leuchtet hell wie nie
und herrlich aufersteht in jedem falle

melancholie
melancholie im herzen
die schwarze galle

4
weil ich nach meinem ebenbild mein kind
nur formen kann, wie Gott: zu dumm, zu schwach
und weil's doch eigne wege findet: blind
läuft es der herde ins verderben nach
die enkel fechtens besser aus! - wer's glaubt
hat seinen seelenfrieden und 'n knall
weil friedhofsruh mir alle ruhe raubt
weil ich so hundemüde bin von all
dieser menschenheitsretterei und schlaf doch nie
weil ich 'ne dürre hab und wollte 'ne dralle

melancholie
melancholie im herzen
die schwarze galle

5
mein lieb, wenn ich mit dir bin, und es trifft
such gut, weil wir einander meinen, wenn ich
dich zottel in die himmel, wenn das gift
wegschwemmt im fluss der seeligkeit, wenn sich
in milch und honig wandeln blut und hass
wenn uns ein freund braucht, und wir können dem
ein bett beziehn und trinken auch'n glas
und macht ein friede uns den krieg bequem
dann passiert es, dass ich ihr für kurz entflieh
ja, weil ich immer wieder steh und falle

melancholie
melancholie im herzen
die schwarze galle

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