12.9.17

HANS MAGNUS ENZENSBERGER: VON DER ALGEBRA DER GEFÜHLE




HANS MAGNUS ENZENSBERGER


VON DER ALGEBRA DER GEFÜHLE

Ich habe oft das Gefühl (brennend,
dunkel, undefinierbar usw.),
daß das Ich keine Tatsache ist,
sondern ein Gefühl,
das ich nicht loswerde.

Ich hege es, lasse ihm freien Lauf,
erwidere es, von Fall zu Fall.
Aber es ist nur eins unter vielen.

Die Menge der Gefühle ist abzahlbar unendlich,
d. h. sie lassen sich im Prinzip numerieren,
bis ins Aschgraue.

Die Nummer der Eifersucht
ist offensichtlich die Sieben.
Auch die Angst ist prim.
Und ich habe das dumpfe Gefühl,
daß die Demütigung
die 188 auf ihrer Stirn trägt –
eine Zahl ohne Eigenschaften.
Auch das Gefühl, numeriert zu sein,
ist vermutlich längst numeriert,
nur wozu und von wem?

Das erhabne Gefühl des Zorns
bewohnt ein anderes Zimmer
in Hilberts Hotel
als das Gefühl,
über den Zorn erhaben zu sein.

Und nur wer sich hingeben kann
dem abstrakten Gefühl
für die Abstraktion, der weiß,
daß es in manchen sehr hellen Nächten
den Wert √− 1 anzunehmen pflegt.

Dann wieder läuft es mir kalt
über den Rücken, das Gefühl,
ein Paket zu sein,
das gefühllose, pelzige Gefühl,
von dem die Zunge zu bersten droht
nach der Injektion,
wenn sie dem Zahn auf den Zahn fühlt,
oder die Peinlichkeit
mit ihrem durchdringenden Bleigeschmack,
das mächtige Gefühl der Ohnmacht,
das unaufhaltsam der Null zustrebt,
und das falsche Gefühl
der wahren Empfindung
mit seinem abscheulichen Kettenbruch.

Dann erfüllt mich
eine Schnittmenge aus gemischten Gefühlen,
schuldig, fremd, wohl, verloren,
alles auf einmal.

Nur dem höchsten der Gefühle
wäre das Ich nicht gewachsen.
Statt Aufwallungen zu suchen
mit dem Limes ∞,
läßt es sich lieber
eine Minute lang übermannen
vom Schauder des eisig heißen Wassers
unter der Dusche, dessen Nummer
noch keiner entziffert hat.

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