31.12.15

MICHAEL KRÜGER: SCHNEE




MICHAEL KRÜGER


SCHNEE

Es riecht nach Schnee,
ein Geruch, der ohne Beschreibung auskommt,
ohne große Worte der Bewunderung.
Über den See zucken letzte Wellen,
bleistiftdünn, bis sie das Eis
ausdruckt in regelmäßigen Versen.

Wir leben in guten Verhältnissen,
lesen die Zeitung, schauen fern,
sehen zu, wie Hamlet zweifelt,
lieben Mörike und Schuberts Impromptus,
auch die Armut läßt uns nicht kalt,
in der Nähe nicht und nicht in der Ferne.

Unser Nachbar wußte alles über Sanskrit,
jetzt hat er sich das Leben genommen,
weil seine Frau ihn verließ. Eben noch
sahen wir ihn im Garten bei den Amseln,
krumm wie ein Fragezeichen, die Vögel
wie hüpfende Punkte um ihn herum.

Wir leben länger als gedacht.
Wir unterscheiden die richtigen Begriffe
von den falschen. Wir lieben den Schnee,
wenn die Wege aussehen wie die Ränder
von Traueranzeigen. Großspurig
läuft der Tod dem Leben davon,

schon ist er im Weiß verschwunden.

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