26.4.09

BERTOLT BRECHT: KLEINES LIED


BERTOLT BRECHT


KLEINES LIED


1.
Es war einmal ein Mann
Der fing das Trinken an
Mit achtzehn Jahren, und –
Daran ging er zugrund.
Er starb mit achtzig Jahr
Woran, ist sonnenklar.

2.
Es war einmal ein Kind
Das starb viel zu geschwind
Mit einem Jahre, und –
Daran ging es zugrund.
Nie trank es: das ist klar
Und starb mit einem Jahr.

3.
Daraus erkennt ihr wohl
Wie harmlos Alkohol…

23.4.09

PAUL ZECH: DIE NÜCHTERNE STADT


PAUL ZECH (1881-1946)


DIE NÜCHTERNE STADT


Straßauf, straßab durchstreifen wir die Stadt,
die graue Stadt, die Stadt zermürbter Brücken.
Verlumpte Bettler drohen giftig mit den Krücken
und Händler drücken uns an Häusern platt.

Aus Wirtshausfenstern wirbelt fetter Bratgeruch
und Lustgebrüll aus hundert Singspielhallen.
Wir müssen schnell die Riemen fester schnallen
und ducken uns vor Fremdenhaß und Lästerfluch.

Den Korso überwölkt Geheul von Schiffsfanfaren
und Bahngeräusch bleit sich in unsre Nerven rücksichtslos.
Aus Pflasterritzen wuchert Unkraut riesengroß.

Verkrüppelt stehn paar Linden am Kanal.
Verstimmte Glocken überwimmern Lust und Qual
und nirgend sieht man Kinder, die sich um ein Spielwerk scharen.

22.4.09

KARL KRAUS: SEHNSUCHT


KARL KRAUS (1874-1936)


SEHNSUCHT


Es war einmal.
Ich leb' am Tage vom Gedanken,
nachts von der Qual;
oft träum' ich nur vom Traum.
Du gehst dahin und bist dir selbst es kaum.
Im meinem Wahn jedoch, dem fieberkranken,
sind deine Wesen ohne Zahl.

21.4.09

ACHIM VON ARNIM: BRIEFGEDICHT AN BETTINA BRENTANO


ACHIM VON ARNIM (1781-1831)


BRIEFGEDICHT AN BETTINA BRENTANO


Herz zum Herzen ist nicht weit
Unter lichten Sternen,
Und das Aug´,von Tau geweiht,
Blickt zu lieben Fernen;
Unterm Hufschlag klingt die Welt,
Und die Himmel schweigen,
Zwischen beiden mir gesellt
Will der Mond sich zeigen.

Zeigt sich heut in roter Glut
An dem Erdenrande,
Gleich als ob mit heißem Blut
Er auf Erden lande,
Doch nun flieht er scheu empor,
Glänzt in reinem Lichte,
Und ich scheue mich auch vor
Seinem Angesichte.

18.4.09

WILHELM HEY: ALLE JAHRE WIEDER


WILHELM HEY (1789-1854)


ALLE JAHRE WIEDER


Alle Jahre wieder
Kommt das Christuskind
Auf die Erde nieder,
Wo wir Menschen sind

Kehrt mit seinem Segen
Ein in jedes Haus
Geht auf allen Wegen
Mit uns ein und aus.

Steht auch mir zur Seite
Still und unerkannt,
Daß es treu mich leite
An der lieben Hand.

16.4.09

CLAIRE GOLL: ENTSÜNDIGUNG


CLAIRE GOLL(1891-1977)


ENTSÜNDIGUNG


Unter einem zärtlichen Mimosenbaum
Voll gelber Lächeln
Lieg ich –
Ohne die schamlosen Kleider
Ohne Stöckelschuhe, ohne Schmuck
Und Hut und Handschuh,
Den ganzen Kram der Stadt,
Die arme Verkleidung.
Nackt und fühlend an der riesigen Erde,
Die ich schüchtern in kleine Arme presse,
Und über mir der große Wind,
Der Weltreisende...
O sich in Blumen wiederzufinden,
O nur noch Erde zu sein!

Als ich noch eitel durch die Stadtstraßen ging,
Als ich noch wichtig am Postschalter stand
Oder beim Friseur die Haare kräuselte
– Während Mimosen von mir träumten –
Als ich mir noch die Nägel manikürte
Und nur daran dachte, zu gefallen, ...
Als ich ganz mittellos an Seele war,
Hörte ich aus den Körben der Händler
Mimosen wild hinausschrein –
Dem Nichts, dem Kehricht, dem Tod entgegen –
Da floh ich ihren blonden Wäldern zu.

15.4.09

ELSE LASKER-SCHÜLER: DEIN STURMLIED


ELSE LASKER-SCHÜLER (1869-1945)


DEIN STURMLIED


Brause Dein Sturmlied Du!
Durch meine Liebe,
Durch mein brennendes All.
Verheerend, begehrend,
Dröhnend wiedertönend
Wie Donnerhall!

Brause Dein Sturmlied Du!
Und lösche meine Feuersbrunst,
Denn ich ersticke in Flammendunst.
Mann mit den ehernen Zeusaugen,
Grolle Gewitter,
Entlade Wolken auf mich.
Und wie eine Hochsommererde
Werde ich
Aufsehnend
Die Ströme einsaugen.
Brause Dein Sturmlied Du!

12.4.09

WERNER FINCK: AN RUTH


WERNER FINCK (1902-1978)


AN RUTH


Komm, laß uns mal zusammen weinen,
Mir ist jetzt grade so zumut.
Leg deinen Dickkopf an den meinen -
Na, sei so gut.

Du bist das Weib, du mußt beginnen,
Und sei getrost, ich tröste dich.
Ein Mann, wie ich, weint nur nach innen,
Und seiner Zähre schämt er sich.

Wie heute deine Haare riechen.
Ich bin wahrscheinlich doch sehr klein.
Ich möchte mich in dich verkriechen
Und nicht mehr aufzufinden sein.

11.4.09

RAINER MARIA RILKE: O DIE KURVEN MEINER SEHNSUCHT DURCH DAS WELTALL


RAINER MARIA RILKE (1875-1926)


O DIE KURVEN MEINER SEHNSUCHT DURCH DAS WELTALL


O die Kurven meiner Sehnsucht durch das Weltall,
und auf jedem Streifen: meines Wesens
hingeschleudert. Manches nicht vor tausend
Jahren auf der wehn Ellipse seines
Schwunges wiederkommend und vorüber.
Eilend durch die einst gewesne Zukunft,
sich erkennend in den Jahreszeiten
oder luftig, als genauer Einfluss
beinah sternisch in den überwachen
Apparanten eine Weile bebend.

10.4.09

CHRISTIAN HOFFMANN VON HOFFMANNSWALDAU: WO SIND DIE STUNDEN


CHRISTIAN HOFFMANN VON HOFFMANNSWALDAU (1616-1679)


[WO SIND DIE STUNDEN]


Wo sind die stunden
Der süssen zeit /
Da ich zu erst empfunden /
Wie deine lieblichkeit
Mich dir verbunden?
Sie sind verrauscht / es bleibet doch dabey /
Daß alle lust vergänglich sey.

Das reine scherzen /
So mich ergetzt /
Und in dem tieffen herzen
Sein merckmal eingesetzt /
Läst mich in schmerzen /
Du hast mir mehr als deutlich kund gethan /
Daß freundlichkeit nicht anckern kan.

Das angedencken
Der zucker-lust /
Will mich in angst versencken.
Es will verdammte kost
Uns zeitlich kräncken /
Was man geschmeckt / und nicht mehr schmecken soll /
Ist freuden-leer und jammer-voll.

Empfangne küsse /
Ambrirter safft /
Verbleibt nicht lange süsse /
Und kommt von aller krafft;
Verrauschte flüsse
Erquicken nicht. Was unsern geist erfreut /
Entspringt aus gegenwärtigkeit.

Ich schwamm in freude /
Der liebe hand
Spann mir ein kleid von seide /
Das blat hat sich gewand /
Ich geh' im leide /
Ich wein' itzund / daß lieb und sonnenschein
Stets voller angst und wolcken seyn.

5.4.09

RICHARD DEHMEL: AN DIE ERSEHNTE


RICHARD DEHMEL


AN DIE ERSEHNTE


Ich habe dich Gerte getauft, weil du so schlank bist
und weil mich Gott mit dir züchtigen will,
und weil eine Sehnsucht in deinem Gang ist
wie in schmächtigen Pappeln im April.

Ich kenne dich nicht - aber eines Tages
wirst du im Sturm an meine Türe klopfen,
und ich werde öffnen auf dies Klopfen,
und meine zuchtlose Brust wird gleichen Schlages
an Deine zuchtlosen Brüste klopfen.

Denn ich kenne dich - deine Augen glänzen wie Knospen,
und du willst blühen, blühen, blühen!
und deine jungen Gedanken sprühen
wie gepeitschte Sträucher an Sturzbächen;
und du möchtest wie ich den Stürmen Gottes trotzen
oder zerbrechen!