10.4.17

NELLY SACHS: GESCHIRMT SIND DIE LIEBENDEN




NELLY SACHS


GESCHIRMT SIND DIE LIEBENDEN

Geschirmt sind die Liebenden
unter dem zugemauerten Himmel.
Ein geheimes Element schafft ihnen Atem
und sie tragen die Steine in die Segnung
und alles was wächst
hat nur noch eine Heimat bei ihnen.

Geschirmt sind die Liebenden
und nur für sie schlagen noch die Nachtigallen
und sind nicht ausgestorben in der Taubheit
und des Waldes leise Legenden, die Rehe,
leiden in Sanftmut für sie.

Geschirmt sind die Liebenden
sie finden den versteckten Schmerz der Abendsonne
auf einem Weidenzweig blutend –
und üben in den Nächten lächelnd das Sterben,
den leisen Tod
mit allen Quellen, die in Sehnsucht rinnen.

7.4.17

GEORG TRAKL: GEISTLICHE DÄMMERUNG




GEORG TRAKL


GEISTLICHE DÄMMERUNG

Stille begegnet am Saum des Waldes
Ein dunkles Wild;
Am Hügel endet leise der Abendwind,

Verstummt die Klage der Amsel,
Und die sanften Flöten des Herbstes
Schweigen im Rohr.

Auf schwarzer Wolke
Befährst du trunken von Mohn
Den nächtigen Weiher,

Den Sternenhimmel.
Immer tönt der Schwester mondene Stimme
Durch die geistliche Nacht.

6.4.17

GOTTFRIED BENN: DU UBERSIEST DICH NICHT MEHR –




GOTTFRIED BENN


DU UBERSIEST DICH NICHT MEHR  

Du übersiehst dich nicht mehr?
Der Anfang ist vergessen,
die Mitte wie nie besessen,
und das Ende kommt schwer.

Was hängen nun die Girlanden,
was strömt nun das Klavier,
was zischen die Jazz und die Banden,
wenn alle Abende landen
so abgebrochen in dir?

Du könntest dich nochmals treiben
mit Rausch und Flammen und Flug,
du könntest –: das heißt, es bleiben
noch einige Töpferscheiben
und etwas Ton im Krug.

Doch du siehst im Ton nur die losen,
die Scherben, den Aschenflug –
ob Wein, ob Öl, ob Rosen,
ob Vase, Urne und Krug.

5.4.17

PAUL CELAN: FLÜGELRAUSCHEN




PAUL CELAN


FLÜGELRAUSCHEN

Die Taube aber säumt in Avalun.
So muß ein Vogel über deine Hüften finstern,
der halb ein Herz und halb ein Harnisch ist.
Ihm ist es um dein nasses Auge nicht zu tun.
Zwar kennt er Schmerz und holt ihn bei den Ginstern,
doch seine Schwinge ist nicht hier und unsichtbar gehißt.

Die Taube aber säumt in Avalun.

Der Ölzweig ward geraubt von Adlerschnäbeln
und wo dein Lager blaut im schwarzen Zelt zerpflückt.
Rings aber bot ich auf ein Heer auf Sammetschuhn
und laß es schweigsam um den Kranz des Himmels säbeln.
Bis du dich schlummernd nach der Lache Bluts gebückt.

Das ist: ich hob, als sie gewaltig fochten,
den Scherben über sie, ließ alle Rosen fallen
und rief, als mancher sie ins Haar geflochten,
den Vogel an, ein Werk des Trosts zu tun.
Er malt dir in das Aug die Schattenkrallen.

Ich aber seh die Taube kommen, weiß, aus Avalun.