18.12.16

ROBERT WALSER: WARUM AUCH?




ROBERT WALSER


WARUM AUCH?

Als nun ein solcher klarer
Tag hastig wieder kam,
sprach er voll ruhiger, wahrer
Entschlossenheit langsam:
Nun soll es anders sein,
ich stürze mich in den Kampf hinein;
ich will gleich so vielen andern
aus der Welt tragen helfen das Leid,
will leiden und wandern,
bis das Volk befreit.
Will nie mehr müde mich niederlegen;
es soll etwas
geschehen; da überkam ihn ein Erwägen,
ein Schlummer: ach, laß doch das.

16.12.16

THOMAS BERNHARD: WILD WÄCHST DIE BLUME MEINES ZORNS




THOMAS BERNHARD


WILD WÄCHST DIE BLUME MEINES ZORNS

Wild wächst die Blume meines Zorns
und jeder sieht den Dorn
der in den Himmel sticht
daß Blut aus meiner Sonne tropft
es wächst die Blume meiner Bitternis
aus diesem Gras
das meine Füße wäscht
mein Brot
o Herr
die eitle Blume
die im Rad der Nacht erstickt
die Blume meines Weizens Herr
die Blume meiner Seele
Gott verachte mich
ich bin von dieser Blume krank
die rot im Hirn mir blüht
über mein Leid.

6.12.16

GOTTFRIED BENN: BLAUE STUNDE




GOTTFRIED BENN


BLAUE STUNDE

I.

Ich trete in die dunkelblaue Stunde –
da ist der Flur, die Kette schließt sich zu
und nun im Raum ein Rot auf einem Munde
und eine Schale später Rosen – du!

Wir wissen beide, jene Worte,
die jeder oft zu anderen sprach und trug,
sind zwischen uns wie nichts und fehl am Orte:
dies ist das Ganze und der letzte Zug.

Das Schweigende ist so weit vorgeschritten
und füllt den Raum und denkt sich selber zu
die Stunde – nichts gehofft und nichts gelitten –
mit ihrer Schale später Rosen – du.


II.

Dein Haupt verfließt, ist weiß und will sich hüten,
indessen sammelt sich auf deinem Mund
die ganze Lust, der Purpur und die Blüten
aus deinem angeströmten Ahnengrund.

Du bist so weiß, man denkt, du wirst zerfallen
vor lauter Schnee, vor lauter Blütenlos,
todweiße Rosen Glied für Glied – Korallen
nur auf den Lippen, schwer und wundengroß.

Du bist so weich, du gibst von etwas Kunde,
von einem Glück aus Sinken und Gefahr
in einer blauen, dunkelblauen Stunde
und wenn sie ging, weiß keiner, ob sie war.


III.

Ich frage dich, du bist doch eines andern,
was trägst du mir die späten Rosen zu?
Du sagst, die Träume gehn, die Stunden wandern,
was ist das alles: er und ich und du?

«Was sich erhebt, das will auch wieder enden,
was sich erlebt – wer weiß denn das genau,
die Kette schließt, man schweigt in diesen Wänden
und dort die Weite, hoch und dunkelblau».

5.12.16

PAUL CELAN: O BLAU DER WELT




PAUL CELAN


O BLAU DER WELT

O Blau der Welt, o Blau, das du mir vorsprachst!
Ich leg mein Herz mit Spiegeln aus. Ein Volk von Folien
steht deinen Lippen zu Gebot: du sprichst, du schaust, du herrschest.
Dein Reich liegt offen, überglänzt von dir.
Doch dunkelts dir, doch weicht die blaue,
die Schwester Welt aus deiner Worte Mitte,
so leg den Riegel vor das Tor der Weite:
verhülln will ich die Scherben an der Herzwand –
In dieser Kammer bleibt dein Gehn ein Kommen.

21.11.16

FRIEDERIKE MAYRÖCKER: WAS BRAUCHST DU




FRIEDERIKE MAYRÖCKER


WAS BRAUCHST DU

was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch
wie groß wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie groß wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel

6.11.16

HERMANN HESSE: ICH LIEBE FRAUEN




HERMANN HESSE


ICH LIEBE FRAUEN

Ich liebe Frauen, die vor tausend Jahren
Geliebt von Dichtern und besungen waren.

Ich liebe Städte, deren leere Mauern
Königsgeschlechter alter Zeit betrauern.

Ich liebe Städte, die erstehen werden,
Wenn niemand mehr von heute lebt auf Erden.

Ich liebe Frauen—schlanke, wunderbare,
Die ungeboren ruhn im Schoss der Jahre.

Sie werden einst mit ihrer sternebleichen
Schönheit der Schönheit meiner Träume gleichen.

5.11.16

FRIEDRICH VON SCHLEGEL: DIE GEBÜSCHE




FRIEDRICH VON SCHLEGEL


DIE GEBÜSCHE

Es wehet kühl und leise
Die Luft durch dunkle Auen,
Und nur der Himmel lächelt
Aus tausend hellen Augen.

Es regt nur Eine Seele
Sich in der Meere Brausen,
Und in den leisen Worten,
Die durch die Blätter rauschen.

So tönt in Welle Welle,
Wo Geister heimlich trauren;
So folgen Worte Worten,
Wo Geister Leben hauchen.

Durch alle Töne tönet
Im bunten Erdentraume
Ein leiser Ton gezogen,
Für den, der heimlich lauschet.

2.10.16

HANS MAGNUS ENZENSBERGER: FEHLER




HANS MAGNUS ENZENSBERGER


FEHLER

Nebenan spielt ein Kind Pour Elise.
Man hört den Fehler, immer wieder von vorn.
Das Dogma von der Unfehlbarkeit
war ein Fauxpas. Es ist ein fataler Patzer
des Parasiten, den Wirt zu töten.
Man nennt das auch Globalisierung.

Schamhaft verbirgt sich der entscheidende Fehler
in einer Düne von geringfügigen Irrtümern
und geht darin unter. An warnenden Stimmen
hat es noch nie gefehlt, die sagen:
Die Welt ist das Unkorrigierbare.

Rührende Reparaturversuche, Flicken,
Plomben, Reformen, Verbesserungen
mit roter Tinte und Pentimenti
führen zu vollkommen neuen Schnitzern.

Gewiß, Geburtsfehler und Fehlgeburten,
das sind zwei Paar Stiefel.
Doch auch die Leistung geht fehl,
die Farbe, die Bitte, der Start,
der Tritt und die Zündung.

Eine Milchstraße von Verirrungen,
die wundernimmt. Aufs Ganze gesehen,
entsteht daraus ein Mirakel.

Fehler um jeden Preis zu vermeiden,
das wäre verfehlt.
Man gesteht ja, räumt ein,
daß man sich vertan hat,
verschrieben, verrannt.

Manche Gedichte zum Beispiel
wären vollkommen,
hätte sie vor diesem Los
nicht ein winziger Fehler bewahrt.

Aus Versehen ist man glücklich,
zuweilen, einen Moment lang,
aus Versehen. Aber etwas fe
hlt.