26.2.15

YVAN GOLL: ICH BIN GEALTERT VOR SEHNSUCHT




YVAN GOLL


ICH BIN GEALTERT VOR SEHNSUCHT

Ich bin gealtert vor Sehnsucht nach
Feuchten Februaren und verspäteten Aprilen
Um dir ein Maiglöckchen zu schenken
Wie viele bleiche Nächte hab ich gewacht
Um den Mond zu befragen
Ob deiner Treue
Ich habe elektrische Sommer ertragen
Dein Telegramm erwartend
Und an den Abenden der Traurigkeit
Streichelte ich die Hände sterbender Lilien

Jede Jahreszeit ist gut für die Arbeit des Herzens:
Bauer des Himmels
Säe und ernte ich Sterne
Um uns zu ernähren meine Geliebte

25.2.15

REINER KUNZE: IN MEMORIAM JOHANNES BOBROWSKI




REINER KUNZE


IN MEMORIAM JOHANNES BOBROWSKI

Sein foto
an den anschlagsäulen

Jetzt

Der nachlaß ist
gesichtet, der dichter
beruhigend tot

24.2.15

HERMANN HESSE: ABENDS




HERMANN HESSE


ABENDS

Abends gehn die Liebespaare langsam durch das Feld.
Frauen lösen ihre Haare, Händler zählen Geld,
Bürger lesen bang das Neuste in dem Abendblatt,
Kinder ballen kleine Fäuste, schlafen tief und satt.

Jeder tut das einzig Wahre, folgt erhabner Pflicht,
Säugling, Bürger, Liebespaare - und ich selber nicht?
Doch! Auch meiner Abendtaten, deren Sklav ich bin,
kann der Weltgeist nicht entraten, sie auch haben Sinn.

Und so geh ich auf und nieder, tanze innerlich,
summe dumme Gassenlieder, lobe Gott und mich,
trinke Wein und phantasiere, dass ich Pascha wär,
fühle Sorgen an der Niere, lächle, trinke mehr,

sage ja zu meinem Herzen (morgens geht es nicht),
spinne aus vergangnen Schmerzen spielend ein Gedicht,
sehe Mond und Sterne kreisen, ahne ihren Sinn,
fühle mich mit ihnen reisen, einerlei wohin.

23.2.15

ALFRED LICHTENSTEIN: LIEBESLIED




ALFRED LICHTENSTEIN


LIEBESLIED

Helle Länder sind deine Augen.
Vögelchen sind deine Blicke,
zierliche Winke aus Tüchern beim Abschied.

In deinem Lächeln ruh ich wie in spielenden Booten
Deine kleinen Geschichten sind aus Seide.
Ich muss dich immer ansehen.

12.2.15

JOHANNES R. BECHER: AUSWAHL




JOHANNES R. BECHER (1891-1958)


AUSWAHL

Die wenig gelungenen Stellen
aus meinen kaum gelungenen Gedichten
wird man auswählen,
um zu beweisen,
ich wäre euresgleichen.

Aber dem ist nicht so:
Denn ich bin
meinesgleichen.

So werde ich auch im Tode
mich zu wehren haben,
und über meinen Tod hinaus
- wie lange wohl? -
erklären müssen,
dass ich meinesgleichen war
und dadurch euresgleichen,
aber nicht euresgleichen
in eurem Sinne.

Indem ich mir glich,
glich ich euch.
Aber nur so.

9.2.15

MARIE LUISE KASCHNITZ: NICHT MUTIG




MARIE LUISE KASCHNITZ (1901-1974)


NICHT MUTIG

Die Mutigen wissen
Daß sie nicht auferstehen
Daß kein Fleisch um sie wächst
Am jüngsten Morgen
Daß sie nichts mehr erinnern
Niemandem wiederbegegnen
Daß nichts ihrer wartet
Keine Seligkeit
Keine Folter
Ich
Bin nicht mutig.

7.2.15

ALFRED KOLLERITSCH




ALFRED KOLLERITSCH


UNBESCHREIBBARER ALS DER MITTELPUNKT DER ERDE

Unbeschreibarer als der Mittelpunkt der Erde
ist, daß du nichts sagst.
Wenn du an mir vorbeischaust,
teilt sich der Raum,
zwei Schnittflächen
klammern dich zu.

Das Eis auf dem Tisch vor uns
ist rauh,
die Gläser und Teller
zerspringen darin.

Was ich an den Tag brachte,
das Licht unter den Augenlidern,
nagst du aus mir,
aber deine Hand fängt es nicht auf.

Morgen, sage ich dann, morgen
wird es vielleicht anders sein,
das Eis eine Wolke,
die Gläser und Teller ein Lied.
Der Raum wird

dich aufschürfen,
und ein Schwarm von Sätzen
wird krächzen vor Glück.

Das sagte ich dir,
als könnte ich es dir
niemals sagen.

6.2.15

RAINER MARIA RILKE: LIEBESANFANG


RAINER MARIA RILKE


LIEBESANFANG

O Lächeln, erstes Lächeln, unser Lächeln.
Wie war das Eines: Duft der Linden atmen,
Parkstille hören - , plötzlich in einander
aufschaun und staunen bis heran ans Lächeln.

In diesem Lächeln war Erinnerung
an einen Hasen, der da eben drüben
im Rasen spielte; dieses war die Kindheit
des Lächelns. Ernster schon war ihm des Schwanes
Bewegung eingegeben, den wir später
den Weiher teilen sahen in zwei Hälften
lautlosen Abends. - Und der Wipfel Ränder
gegen den reinen, freien, ganz schon künftig
nächtigen Himmel hatten diesem Lächeln
Ränder gezogen gegen die entzückte
Zukunft im Antlitz.

4.2.15

DURS GRÜNBEIN: KIOSK AM MEER




DURS GRÜNBEIN


KIOSK AM MEER

Freiheit - und weiter ging der Verkehr. Die Idee
Hat sich ausgedehnt unterwegs. Am Ende der Mole
Stand ein Topf aus Beton, keiner wüßte wofür.

Der Kiosk am Meer, das war sie. Im Fenster hingen
Blaustichige Ansichtskarten verblichener Sommer.
Wie sind wir hierher gekommen? Der Brandung wegen?
Wer ist noch derselbe nach Jahren der Egomanie?

Über den Wolken schlafen die Mauersegler,
So geht die Legende. Aber wie geht sie weiter?
Verzeihung, wir kannten uns kaum. Und Zeit war
Kein Eigentum, das der Einzelne schützte wie die Natur.
Ist der Sand enttäuscht, wenn die Dämmerung fällt?

Wir sprechen, blinzeln solang wir am Feuer sitzen.
Wenn du sie siehst, grüß sie von mir. Sag Guten Tag.

3.2.15

ERICH FRIED: ZU GUTER LETZT




ERICH FRIED


ZU GUTER LETZT

Als Kind wußte ich:
Jeder Schmetterling
den ich rette
Jede Schnecke
und jede Spinne
und jede Mücke
jeder Ohrwurm
und jeder Regenwurm
wird kommen und weinen
wenn ich begraben werde

Einmal von mir gerettet
muß keines mehr sterben
Alle werden sie kommen
zu meinem Begräbnis

Als ich dann groß wurde
erkannte ich:
Das ist Unsinn
Keines wird kommen
ich überlebe sie alle

Jetzt im Alter
frage ich: Wenn ich sie aber
rette bis ganz zuletzt
kommen doch vielleicht zwei oder drei?