28.12.14

REINER KUNZE: KREUZ DES SÜDENS




REINER KUNZE


KREUZ DES SÜDENS

Nächte, die dich steinigen

Die sterne stürzen herab
auf ihrem licht

Du stehst in ihrem hagel

Keiner trifft dich

Doch es schmerzt,
als träfen alle

22.12.14

HILDE DOMIN: NUR ZWEI TÜREN




HILDE DOMIN


NUR ZWEI TÜREN

Nur zwei Türen
sind verriegelt.
Alle andern laden dich ein
und öffnen dem leisesten
Druck deiner Neugier.

Nur diese Türen sind
so hart zu öffnen
dass deine Kräfte nicht reichen.
Kein Schreiner kommt und
hobelt sie ab und ölt
die widerspenstigen Riegel.

Die Tür die sich hinter dir
schloss und du bist
draussen.
Die Tür die vor dir sich sperrt und du
bist drinnen.

19.12.14

BERTOLT BRECHT: FRAGEN EINES LESENDEN ARBEITERS



BERTOLT BRECHT


FRAGEN EINES LESENDEN ARBEITERS

Wer baute das siebentorige Theben? 
In den Büchern stehen die Namen von Königen. 
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? 
Und das mehrmals zerstörte Babylon, 
Wer baute es so viele Male auf ? In welchen Häusern 
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? 
Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war, 
Die Maurer? Das große Rom 
Ist voll von Triumphbögen. Über wen 
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz 
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis 
Brüllten doch in der Nacht, wo das Meer es verschlang, 
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven. 
Der junge Alexander eroberte Indien. 
Er allein? 
Cäsar schlug die Gallier. 
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? 
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte 
Untergegangen war. Weinte sonst niemand? 
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer 
Siegte außer ihm? 
Jede Seite ein Sieg. 
Wer kochte den Siegesschmaus? 
Alle zehn Jahre ein großer Mann. 
Wer bezahlte die Spesen? 

So viele Berichte, 
So viele Fragen.

18.12.14

EMANUEL GEIBEL: PFINGSTEN



EMANUEL GEIBEL (1815-1884)


PFINGSTEN

Das Fest der Pfingsten kommt im Hall der Glocken,
Da jauchzt in Frühlingsschauern die Natur;
Auf jedem Strauch des Waldes und der Flur
Schwebt eine Ros’  als Flamme im Frohlocken.

O Geist, der einst in goldnen Feuerflocken
Auf`s Haupt der Jünger brausend niederfuhr,
Von deinem Reichthum einen Funken nur,
Hernieder send` ihn auf des Sängers Locken!

Ich weiß es wohl, nicht würdig bin ich dein;
Doch hast du nie die Tugend ja gemessen,
Der Glaube zieht, die Sehnsucht dich allein.

Der Armen hast du nimmermehr vergessen,
Du kehrtest in der Fischer Hütten ein,
Und an der Sünder Tisch hast du gesessen.

17.12.14

CLAIRE GOLL: DU KOMMST




CLAIRE GOLL


DU KOMMST

Du
Tötest alle Dezembernesseln
Mit März
Mein Herz rufet schon Hyazinthen
Süss-süsser Rausch
Vergehen

Aus allen Augen duften Narzissen
Mir
Weinen Lachen
Und Taumel
Ich scheine Sonne
Hin-gebend
Demut
Du kommst!

16.12.14

MATTHIAS CLAUDIUS: DIE STERNSEHERIN LISE




MATTHIAS CLAUDIUS


DIE STERNSEHERIN LISE

Ich sehe oft um Mitternacht,
Wenn ich mein Werk getan
Und niemand mehr im Hause wacht,
Die Stern' am Himmel an.

Sie gehn da, hin und her zerstreut
Als Lämmer auf der Flur;
In Rudeln auch, und aufgereih't
Wie Perlen an der Schnur;

Und funkeln alle weit und breit,
Und funkeln rein und schön;
Ich seh die große Herrlichkeit,
Und kann mich satt nicht sehn...

Dann saget, unterm Himmelszelt,
Mein Herz mir in der Brust:
"Es gibt was Bessers in der Welt
Als all ihr Schmerz und Lust."

Ich werf mich auf mein Lager hin,
Und liege lange wach,
Und suche es in meinem Sinn,
Und sehne mich darnach.

14.12.14

YVAN GOLL: DIE HOCHÖFEN DES SCHMERZES




YVAN GOLL


DIE HOCHÖFEN DES SCHMERZES

In den Hochöfen des Schmerzes
Welches Erz wird da geschmolzen
Die Eiterknechte
Die Fieberschwestern
Wissen es nicht

Tagschicht
Nachtschicht allen Fleisches
Blühn die Wunden und die Feuer
Wild in den Salpetergärten
Und den heißen Rosenäckern

Asphodelen meiner Angst
An den Abhängen der Nacht

Ach was braut der Herr der Erze
In den Herzen? Den Schrei
Den Menschenschrei aus dunklem Leib
Der wie ein geweihter Dolch
Unsre Totensonne schlitzt

21.11.14

REINER KUNZE: DER VOGEL MÄRZ




REINER KUNZE


DER VOGEL MÄRZ

Nun bin ich dreißig jahre alt
und kenne Deutschland nicht:
Die grenzaxt fällt in Deutschland wald
O land, das auseinanderbricht
im menschen

Und alle brücken treiben pfeilerlos

Gedicht, steig auf, flieg himmelwärts!
Steig auf, gedicht, und sei
der vogel Schmerz